4 Grundbedingungen schriftlicher und mündlicher Prüfungen

4.1 Allgemeine Bemerkungen

Im vorliegenden Zusammenhang ist von Bedeutung, einem Vorurteil zu begegnen, das im Zusammenhang mit den hier darzustellenden Aspekten aufkommen kann und das darin besteht, Inhalte wie die im Folgenden beschriebenen seien nicht hinreichend wissenschaftlich. Bereits an dieser Stelle sei vorweggenommen: Ein solches Vorurteil trifft nicht zu; es ist inhaltlich in keiner Weise gerechtfertigt.

Durchaus praktisch anmutende Gesichtspunkte wie die im Folgenden darzustellenden können nicht leichtfertigt als unwissenschaftlich abgetan werden. Die Sachlage stellt sich vielmehr umgekehrt dar: Sind die hier problematisierten Bedingungen in schriftlichen oder mündlichen Püfungen nicht oder nicht hinreichend erfüllt, können diese Prüfungen nicht erfolgreich durchgeführt werden. Sind sie nicht erfüllt, können diese Prüfungen somit keinerlei Anspruch auf Professionalität und daher letztendlich auch keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Bedingungen wie die hier geforderten sind somit nicht nur nicht trivial; sie machen den Durchführungserfolg von Prüfungen vielmehr erst aus: Sie sind Garanten der Verwirklichung prüfungsdidaktischer Prinzipien.

Einige der nunmehr darzustellenden Grundbedingungen sind - wenn auch nicht sehr tiefgehend und auch nicht exhaustiv - auch an anderer Stelle beschrieben[1], und die meisten von ihnen gehören zum Alltag jedes Prüfers. Das Problem besteht jedoch darin, dass sie von jedem Prüfer tendenziell nach seinen eigenen Vorstellungen umgesetzt, also auf vorwissenschaftlichem Niveau behandelt werden. Die vorliegende Monographie soll auch in diesem Zusammenhang durchaus die Funktion übernehmen, als Handreichung dienen zu können. Dabei erheben wir auch hier in keiner Weise einen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern verweisen im Folgenden vielmehr auf einige wesentliche Gesichtspunkte, die uns wichtig erscheinen und die sich der Übersichtlichkeit halber wie folgt darstellen lassen:



Abb.: 50: Grundbedingungen von Prüfungen


4.2 Grundbedingungen schriftlicher Prüfungen

Die für schriftliche Prüfungen im günstigsten Falle zu erfüllenden Grundbedingungen beziehen sich zunächst auf das situative Umfeld und des Weiteren auf Aspekte der Aufsicht, der Zeitplanung des Prüfers, der Kommunikation zwischen Prüfer und Prüfling und der Häufung von Prüfungen an einem gegebenen Prüfungstag. Darüber hinaus kommen jedoch ebenso Gesichtspunkte in Betracht, die die Prüfermacht betreffen, und solche, die sich auf die grundlegende Ausrichtung von Klausurfragen beziehen. Auf alle genannten Gesichtspunkte soll im Folgenden eingegangen werden.

Zunächst wollen wir uns mit dem situativen Umfeld schriftlicher Prüfungen befassen.


4.2.1 Situatives Umfeld

Im Hinblick auf das situative Umfeld schriftlicher Prüfungen sind Fragen des Prüfungsraumes und seiner Gestaltung von Bedeutung und wie auch solche, die auf die Sitzordnung abzielen, auf die Terminierung der Prüfung und auf die Pflicht der Prüflinge, sich auszuweisen:

Abb. 51: Situatives Umfeld schriftlicher Prüfungen


Beginnen wollen wir mit grundlegenden Fragen zum Prüfungsraum.


4.2.1.1    Prüfungsraum

4.2.1.1.1 Anzahl der Prüflinge und Raumgröße

Raumgröße und Anzahl der Prüflinge sollten - als unabdingbare Voraussetzung - aufeinander abgestimmt sein. Als rechnerische Grundregel für eine seriöse Prüfungspraxis wollen wir hier von einer Grundfläche von mindestens zwei Quadratmetern ausgehen, die jedem Prüfling an Raum zur Verfügung steht. Ist diese Regel erfüllt, so kann die gegebene schriftliche Prüfung unter regulären Bedingungen stattfinden. Steht mehr Raum zur Verfügung, kann dies nur begrüßt werden.

Diese Regel findet sich mehr oder minder exakt dann umgesetzt, wenn Klausuren in Hörsälen stattfinden und neben, vor und hinter jedem Prüfling je ein Platz frei ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Umsetzung dieser quantitativen Vorgabe an deutschen Schulen und Hochschulen tendenziell gerecht zu werden versucht wird. Aus diesem Grunde bedarf es an dieser Stelle keiner weiteren Ausführungen.


4.2.1.1.2 Luft und Lärm

Als Prüfungsraum sollte ein solcher gewählt werden, in dem eine hinreichende Zufuhr an Frischluft gewährleistet ist. Diese im Grunde simple Forderung findet sich dann nicht erfüllt, wenn die entsprechende Klausur beispielsweise in einem Hörsaal stattfindet, in dem keine Klimaanlage installiert bzw. funktionsfähig ist. Da erfahrungsgemäß ein beachtlicher Anteil schriftlicher Prüfungen an deutschen Hochschulen in ebensolchen Hörsälen abgehalten wird, kann davon ausgegangen werden, dass diese Bedingung häufig gerade nicht erfüllt ist.

Da Sauerstoffmangel die Denkleistung herabsetzt[2], ergibt sich hier ein direkter Zusammenhang zwischen der Wahl des Prüfungsraumes und dem Erfolg der Prüflinge. Diese ist somit für die Reliabilität einer schriftlichen Prüfung von ausschlaggebender Bedeutung. Anders ausgedrückt, können Prüflinge bereits a priori an der Erzielung ihres bestmöglichen Prüfungsergebnisses gehindert werden, wenn ein ungeeigneter Prüfungsraum gewählt wird.

Ein ähnlicher Zusammenhang lässt sich zwischen der erzielbaren Prüfungsleistung und dem im Prüfungsraum herrschenden Lärmpegel herleiten: Jegliche akustische Ablenkung vermindert potentiell die intellektuelle Leistungsfähigkeit im Sinne der momentanen Performanz der Prüflinge. Wenn es angesichts der Prüfungssituation selbst, in der die Prüflinge ihrerseits zum allgemeinen Lärmpegel beitragen, schon unmöglich ist, vollkommene Ruhe zu bewahren, so sollte doch zumindest jegliche von außen kommende akustische Störung vermieden werden. Der gewählte Prüfungsraum sollte daher geschützt sein vor Straßenlärm, auf dem Flur lärmenden Kommilitonen, Mensageräuschen und ähnlichem. Allein diese wenigen Stichwörter zeigen, wie schwierig sich die Auswahl eines geeigneten Raumes gestalten kann. Dennoch sollten hier keine Mühen - und, wenn nötig, auch keine Kosten - gescheut werden, um geeignete Prüfungsräume zu finden bzw. zu schaffen, die die essentiellen Bedingungen seriöser Prüfungen gewährleisten.


4.2.1.1.3 Einrichtung des Raumes

Die Einrichtung des Prüfungsraumes sollte funktional sein. Im Folgenden seien zu dieser Funktionalität des Prüfungsraumes einige Hinweise gegeben.

Von Bedeutung ist, dass, wenn immer möglich, der Prüfungsraum kein Hörsaal ist. Hörsäle sind zwar zum Zwecke der Abhaltung von Prüfungen - gerade für die Testung größerer Gruppen - sehr beliebt, aber sie stellen keine optimale Lösung dar (vgl. Kap. 4.2.1.1.2). Die Beaufsichtigungsökonomie, die gemeinhin das Hauptargument für die Nutzung von Hörsälen darstellt, sollte mit Blick auf die Durchführungsqualität von Prüfungen nicht als ausschlaggebend gewertet werden.

Die Wände sollten nicht allzu kahl sein. Ein oder zwei Bilder sollten an den Wänden vorhanden sein, da diese die Prüflinge in Phasen meditativer Arbeit inspirieren können.

Jeder Prüfling sollte möglichst an einem Einzeltisch sitzen bzw. hinreichend weit von seinem Nachbarn entfernt platziert sein. Auf diese Weise werden nicht nur Täuschungsversuche unterbunden, sondern potentielle gegenseitige Störungen der Prüflinge untereinander auf ein Mindestmaß reduziert. Für Jacken und Taschen sollten Ablagemöglichkeiten geschaffen werden: Das Faktum, dass sich die Utensilien der Prüflinge in aller Regel im vorderen Bereich oder an den Seiten des Raumes auf dem Boden türmen, ist ein Anzeichen für eine suboptimale Prüfungsorganisation.

Im Raum sollte eine für alle Prüfungsteilnehmer gut sichtbar aufgestellte Pflanze vorhanden sein, die zur Beruhigung und zur Entspannung der Augen dienen kann. Zu Beginn der Prüfung sollte - auch wenn diese Anregung ein wenig weit gehen mag - zur Untermalung beruhigende Musik gespielt werden, die die Aufregung der Prüflinge dämmt.

Die hier gemachten Verbesserungsvorschläge sind technisch ohne allzu großen Aufwand durchführbar und bringen - solange es nicht möglich ist, separate, ausschließlich für Prüfungen genutzte Räume anzubieten - bereits eine  erhebliche Verbesserung der Prüfungsatmosphäre mit sich.


4.2.1.2 Sitzordnung

Im Optimalfalle sollten zwei Prüflinge, die einander Nachbarn sind, nicht eine absolut identische Klausur zu bearbeiten haben (Klausurdiversifizierung). Entweder sollten ihre Klausuren voneinander unterschiedlich sein - was in der Praxis leider nur schwer durchführbar ist - oder die einzelnen Aufgaben sollten in jeder der beiden Klausuren in einer jeweils unterschiedlichen Abfolge figurieren. Mit Hilfe dieses Vorgehens - das ja ohnehin eine recht frequente Prüfungspraxis darstellt - werden Täuschungsmanöver erheblich erschwert.

Hat für eine gegebenen Klausur eine Einschreibung stattgefunden oder stehen die Prüfungsteilnehmer namentlich fest – was bei guter Prüfungs-organisation der Fall sein sollte - so ist dafür zu plädieren, die Sitzordnung bereits a priori, also vor der Prüfung, festzulegen und den Prüflingen zu Prüfungsbeginn - beispielsweise durch Aushang an der Eingangstür - bekanntzugeben. Dieses Vorgehen hat zwei wesentliche Vorteile:
  • Der Prüfer bzw. die Aufsichtsperson bestimmt, wer neben wem sitzt, nicht die Prüflinge selbst. Die Kontrolle verbleibt somit bei dem Prüfer.
  • Die Bildung von „Teamarbeit“ zwischen den Prüflingen wird wirkungsvoll unterbunden, da durch diese Organisation gute Freunde oder Lernpartner nicht nebeneinander sitzen.
Findet die Klausur im Hörsaal statt, sollte nicht nur neben jedem Prüfling zu jeder Seite je ein freier Platz sein, sondern ebenso vor und hinter ihm auch jeweils eine leere Sitzreihe. Auch dies ist jedoch frequente Prüfungspraxis und sei hier lediglich der Vollständigkeit halber erwähnt.

Diese Problematik leitet direkt zu dem nächsten für schriftliche Prüfungen zentralen Gesichtspunkt über: der Organisation und Durchführung der Aufsicht.


4.2.2 Klausuraufsicht

Die Organisation und vor allem die Durchführung der Klausuraufsicht stellt ein erhebliches prüfungsdidaktisches Problem dar. Hierbei ist zwischen zentralisierten Klausuren einerseits und Klausuren im Kurs- bzw. Klassenverband zu unterscheiden.


4.2.2.1 Zentralisierte und dezentralisierte Prüfungen

Bei zentralisierten Klausuren ist unbedingt zu fordern, dass mindestens ein Fachprüfer die Aufsicht führt, also ein Prüfer, der auch die zu schreibende Klausur gestellt hat. Führen ausschließlich fachfremde oder auch nur klausurfremde Prüfer - also solche, die die gegebenen Klausur nicht gestellt haben - Aufsicht, so können dann sehr leicht Probleme entstehen, wenn:
  • eine Klausuraufgabe (partiell) fehlerhaft ist und / oder
  • eine oder mehrere Klausuraufgaben nicht vollkommen verständlich bzw. eindeutig formuliert sind.
In solchen Fällen ist es für die Prüflinge unerlässlich, sich an einen fachlich kompetenten Prüfer werden zu können, der die beschriebenen Probleme unmittelbar zu lösen vermag. Ist ein solcher Prüfer nicht anwesend und muss gegebenenfalls telefonisch befragt werden, so entsteht nicht nur eine unnötige Unruhe unter den Prüflingen, sondern auch unnötige Unsicherheit und nicht zuletzt unnötiger Ärger - Effekte, die durch entsprechende Organisation leicht vermeidbar sind. Aus diesen Gründen wird hier dringend gefordert, dass in jeder Klausur mindestens ein Prüfer die Aufsicht führt, der fachlich und klausurrelevant kompetent ist.

Ist es - trotz dieser erheblichen Einwände - unbedingt notwendig, Klausuren in zentralisierter Form durchzuführen, so sollte eine hinreichende Zahl an Prüfern Aufsicht führen. Es ist dabei nicht akzeptabel, dass beispielsweise für 200 Studierende, die in einem Hörsaal eine gegebene Klausur schreiben, lediglich zwei Aufsichten zur Verfügung stehen. Ist eine solche Situation gegeben, sind dem Täuschungsversuch Tür und Tor geöffnet. Zu fordern ist somit, dass jeweils für etwa 30 Prüflinge eine Aufsichtsperson zur Verfügung steht. Nur unter Erfüllung eines solchen quantitativen Verhältnisses zwischen Prüfern und Prüflingen ist die Durchführungsqualität der Prüfung gewährleistet. Mit diesem Verhältnis wird jedoch das Hauptargument für die Durchführung zentralisierter Klausuren - die personelle Effizienz - neutralisiert: In diesem Fall können Klausuren gleich im Kurs- oder Klassenverband durchgeführt werden.

Die zuvor beschriebenen Probleme können also nicht entstehen, wenn Klausuren im Kursverband (Hochschule) oder im Klassenverband (Schule) geschrieben werden. In diesem Fall ist - abgesehen von Krankheitsfällen - immer der fachlich und klausurrelevant kompetente Prüfer anwesend. Aus diesem Grunde ist diese Klausurform der zentralisierten schriftlichen Prüfung vorzuziehen. Diese stellt die einzig denkbare Form der Aufsichtsführung dar, die prüfungsdidaktisch als akzeptabel angesehen werden kann.


4.2.2.2 Ausweispflicht der Prüflinge

Bei zentralisierten Prüfungen, bei denen die Aufsichtsperson nicht alle Prüflinge kennt, besteht eine juristische Notwendigkeit darin, dass die Prüflinge sich ausweisen müssen. Dies ist die juristische Seite.

Die prüfungsdidaktische Seite dieses Gesichtspunktes liegt jedoch anderswo: Eine Ausweispflicht der Prüflinge ist aus dieser Perspektive dann nicht notwendig, wenn die Aufsichtsperson alle Prüflinge persönlich kennt. Wenn schriftliche Prüfungen nicht als zentralisierte Prüfungen, sondern als solche im Klassen- oder Kursverband organisiert sind, besteht in der Realisierung dieser Forderung somit kein Problem. Ein organisatorisches - und zugleich juristisches - Problem entsteht nur dann, wenn diese Forderung nicht erfüllt ist. In diesem Falle ist nicht nur ungleich mehr Kontrolle notwendig, sondern es leidet auch die Durchführungsqualität der Prüfung. Damit ergibt sich ein -, gewichtiges Argument für die Durchführung dezentralisierter Prüfungen.


4.2.2.3 Austeilen und Kenntnisnahme der Prüfungsunterlagen

Im Allgemeinen wird in Klausuren von Prüferseite ein wichtiges Kriterium darin gesehen, den Prüflingen die Klausurunterlagen gleichzeitig auszuhändigen bzw. sie dazu anzuhalten, die ihnen verdeckt ausgeteilten Unterlagen gleichzeitig umzudrehen und simultan zur Kenntnis zu nehmen. Diesem Gesichtspunkt wird aus unserer Sicht zu viel Bedeutung beigemessen. Hierfür sprechen die folgenden Gründe:
  • Die Kenntnisnahme von Klausurinhalten durch den ersten Prüfling zwei oder drei Minuten eher als diejenige durch den letzten Prüfling stellt keinen entscheidenden Vorteil dar;
  • Diese Differenz kann sich bei der Abgabe der Klausur neutralisieren;
  • Eine Anstellung fruchtbarer Überlegungen während der Verteilungsphase der Klausur, die immer auch durch Unruhe gekennzeichnet ist, ist kaum möglich;
  • Selbst wenn ein Prüfling seine Klausur im höchsten Falle drei Minuten länger hat als manche seiner Mitprüflinge, hat er auch zwei oder drei Minuten länger Zeit, Fehler zu produzieren: Eine längere Haltedauer der Klausurunterlagen führt somit nicht automatisch zu besseren Resultaten.
Aus diesen Gründen - deren Auflistung hier nicht einmal exhaustiv ist - kann ein Insistieren auf vollkommen gleichzeitiger Verfügbarmachung somit als dysfunktional betrachtet werden, da es die Durchführungsqualität von Klausuren nicht entscheidend beeinflusst. Es sollte jedoch unbedingt verhindert werden, dass die Prüfungsteilnehmer während der Austeilung der Prüfungsunterlagen bereits Informationen austauschen. In diesem Zusammenhang ist wiederum eine effiziente Klausuraufsicht gefordert (vgl. Kap. 4.2.2).


4.2.2.4  Zulassung von Fragen während der Prüfung

Während einer Klausur sollten Fragen von Seiten der Prüflinge im Grunde nicht nötig sein, da die Klausur und ihre Aufgabenstellungen aus sich heraus verständlich und eindeutig zu sein haben. Die beschriebene Situation stellt jedoch den Optimalfall dar und ist daher keineswegs die Regel. In diesem Zusammenhang stellt sich das Problem, wie Prüfer reagieren sollten, wenn seitens der Prüflinge Fragen gestellt werden.

Fragen generell abzublocken, ist bedenklich, da ein solches Verhalten beim Prüfling zu Unsicherheit führt. Ist eine Frage berechtigt - und dies sollte vom Prüfer zunächst hinterfragt werden -, so bestehen unter anderem die folgenden Möglichkeiten:
  • Die Abgabe einer kryptischen Antwort - also die Beantwortung der Frage in mehr oder minder indirekter Form, die die Prüflinge zum Nachdenken zwingt, wodurch sie zu einem prüfungsrelevant korrekten Resultat gelangen können. Auf diese Weise hilft der Prüfer den Prüflingen zwar ein wenig, aktiviert jedoch zugleich ihr Wissen und serviert ihnen keine „fertige“ Antwort - was in einer Prü-fung auch unredlich wäre.
  • Die Überprüfung des potentiellen Problems, ob die gestellte Frage für alle Prüflinge relevant ist, ob sie alle also die entsprechende Aufgabe nicht verstanden haben. In diesem Falle mag die Formulierung der gestellten Klausuraufgabe in der Tat unklar sein, und der Prüfer sollte die vom Prüfling gestellte Frage beantworten.
  • Die Überprüfung eines Fehlers in der Aufgabenstellung. In diesem Falle sollte die gestellte Frage in der Weise beantwortet werden, dass das entstandene Problem beseitigt wird. Dies sollte zudem mit einer Entschuldigung des Prüfers einhergehen.
Nicht beantwortet werden sollten dagegen Fragen,
  • die eindeutig aus der Aufgabenstellung hervorgehen,
  • die auf Wissenslücken der Prüflinge verweisen,
  • die illegitim sind, also Bestandteil des abgefragten Wissens oder der abgefragten Fertigkeiten sind.
Auch im vorliegenden Zusammenhang wird deutlich, wie wichtig es ist, dass Prüfer und Aufsichtsperson(en) in Klausuren identisch sind.


4.2.2.5 Täuschungsversuch

Täuschungsversuche, die während schriftlicher Prüfungen auftreten, sind hochgradig unerfreulich, jedoch im Grunde recht einfach zu handhaben. Es sollte jedoch auch in einer solchen Krisensituation im Sinne eines humanen Verhaltens vorgegangen werden.

Stellt ein Prüfer fest, dass ein Prüfling sich für die Bewältigung einer Klausur unerlaubter und unlauterer Mittel bedient, sollte er diesen zunächst warnen. Wiederholt sich der Vorgang, sollte die Warnung nachhaltiger erfolgen. Wird der Prüfling ein drittes Mal erwischt, sollte ihm die Klausur umgehend abgenommen werden und ist dann natürlich nicht bestanden. Dieses Vorgehen ist zwar streng, der Prüfling hat in diesem Szenario jedoch insgesamt drei Chancen zur Unterlassung seines Verhaltens, die er potentiell nutzen kann.

Von erheblicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass der Täuschungsversuch dokumentiert wird. Im Idealfalle sollte der Prüfer einen Zeugen - also eine weitere Aufsichtsperson - zur Verfügung haben, der den Vorfall kurz protokolliert. Da diese Forderung bei schriftlichen Prüfungen, die im Kurs- oder Klassenverband abgehalten werden, nicht einfach umzusetzen ist, weil in einer solchen Situation meist nur ein Prüfer bzw. eine Aufsicht - der Kursleiter - anwesend ist, sollte dieser versuchen, den Vorfall durch Fotos zu dokumentieren, also das jeweilige corpus delicti (Spickzettel) oder die Situation (Kontaktaufnahme mit dem Nachbarn, Hinüberbeugen zu diesem) im Bild festzuhalten. Auch während der Prüfung sollte der Prüfer hier und da Fotos von der Gesamtsituation und den Prüflingen machen, damit diese das Gefühl haben, effizient kontrolliert zu werden. Auf diese Weise können Täuschungsversuche nachhaltig unterbunden werden. Der Störfaktor dieses Verhaltens für die Prüflinge wiegt hier im Zweifel weniger schwer als dessen positiver Effekt auf die Gesamtsituation.

Insgesamt gilt, dass nur ein konsequentes Vorgehen dauerhaft dazu führt, Täuschungsversuche im Rahmen schriftlicher Prüfungen zu verhindern.


4.2.2.6 Zeitliche Hinweise

Trotz der vorhergehenden Ausführungen gilt, dass der Prüfer nicht der Feind des Prüflings ist. In erster Linie steht er in einer Fürsorgepflicht gegenüber diesem, die nicht zuletzt die Zeitplanung des Prüflings während der Klausur betrifft.

Da Prüflinge in Klausursituationen nicht selten in eine Phase der Zeitvergessenheit geraten, ist es notwendig, sie wiederholt auf die restliche Prüfungsdauer hinzuweisen. Dies sollte in moderater Form geschehen, um die Prüflinge zwar zu zügiger Arbeit anzuhalten, sie jedoch nicht in unnötige Hektik zu versetzen. In einer neunzigminütigen Klausur könnten solche Hinweise beispielsweise nach 45 Minuten und 15 Minuten vor Abgabe gegeben werden. In Klausuren einer Länge von 180 Minuten könnten sie beispielsweise nach einer Stunde, nach zwei Stunden und 30 Minuten vor Abgabe erfolgen. Auf diese Weise werden die Prüflinge davor geschützt, die zeitliche Orientierung zur verlieren und aus diesem Grunde nicht alle gestellten Aufgaben zu bearbeiten.

Betrafen die bis hier behandelten Punkte die Klausursituation selbst, kommen wir nun zu weiteren, für schriftliche Prüfungen relevanten Aspekten, die jedoch im Vorfeld dieser zu beachten sind.


4.2.3 Kommunikation Prüfer Prüfling

Die Tatsache, dass eine mündliche Prüfung eine Kommunikationssituation zwischen Prüfer(n) und Prüfling(en) darstellt, ist unbestreitbar und wird im Regelfalle auch nicht angezweifelt. Weit weniger selbstverständlich ist hingegen, dass auch eine Klausur eine Kommunikationssituation zwischen Prüfer und Prüfling darstellt: Auch bei diesem Prüfungstyp existieren Erwartungen von beiden Seiten - beispielsweise hinsichtlich des jeweiligen Aspirationsniveaus und der Art der Bewertung. Zudem sind einige weitere Gesichtspunkte wichtig: die Zeitplanung des Prüfers, die Absprache poten-tieller Klausurinhalte und der im Unterricht behandelte und in der Klausur zu bearbeitende Stoff. Diese sollen im Folgenden schlaglichtartig behandelt werden.


4.2.3.1 Zeitplanung des Prüfers

Klausuren kommen für Prüfer in aller Regel nicht überraschend - sie sind terminlich von langer Hand festgesetzt. Aus diesem Grunde sollten sie vom Prüfer von ebenso langer Hand vorbereitet sein, um professionell gestellt werden zu können und nicht zuletzt des Kommunikationscharakters, der für sie gilt, Rechnung zu tragen.

In Eile konzipierte Klausuren - möglichst am Abend vor dem Prüfungstermin selbst - entsprechen in aller Regel nicht ausreichender prüfungsdidaktischer Qualität. Auch wenn der Zeitfaktor nicht in jedem Fall für die Qualität einer gegebenen Arbeit entscheidend ist, kann er dennoch nicht vollkommen negiert werden. Nicht selten wird das Ergebnis einer solchen Arbeit dann nichts anderes als eine Notlösung darstellen, bei der die Prüfungsvalidität zu wünschen übrig lässt.

Aus diesen Gründen muss für Prüfer gelten, dass sie - trotz allen realen Termindrucks, dem sie selbst in ihrem Arbeitsalltag unterliegen -,
  • ihre Klausuren frühzeitig erstellen, so dass deren jeweilige Rohfassung mindestens vier Tage vor dem Termin steht,
  • die Rohfassung einer gründlichen Überprüfung unterziehen und sie entsprechend überarbeiten, falls sich Unstimmigkeiten ergeben,
  • der eigenen Arbeit gegenüber selbstkritisch sind und sie immer wieder in Frage stellen,
  • ihre Klausuren niemals nach altbekannten Schemata erstellen, sondern in jeder Klausur zumindest einen „neuen“ Gesichtspunkt unterbringen, der eine Abwandlung zu früheren Klausuren darstellt und von den Prüflingen in dieser Form nicht erwartet wird, und schließlich,
  • ihre eigene Sensibilität und Kreativität im Prüfungsalltag zu erhalten versuchen.
Diese wenigen Kriterien, die im Grunde selbstverständlich sein sollten, sind im Berufsalltag eines (Hochschul)Lehrers nicht leicht und unmittelbar umzusetzen. Über dieses Faktum sind wir uns sehr wohl bewusst. Dennoch sollte ein Prüfer, der einen gewissen Anspruch an sich selbst und seine Arbeit stellt, sich an dieser hohen Messlatte orientieren - um Prüfungen zu erstellen, die möglichst hohen Qualitätsansprüchen genügen.


4.2.3.2 Absprache der Klausurinhalte

Klausurinhalte sollten im Idealfalle nie in der Weise mit den Prüflingen abgesprochen werden, dass diese bereits im Vorhinein wissen, welcher Stoff in der Klausur vorkommt. Die Begrenzung der klausurrelevanten Stoffes auf einen ausgewählten Teil des im Unterricht behandelten Materials stellt in einer gegebenen Klausur zwar die Regel dar, die entsprechende Auswahl sollte den Prüflingen jedoch nicht mitgeteilt werden.

In der Praxis besteht das Problem jedoch darin, dass diese Frage der Auswahl klausurrelevanter Inhalte heutzutage von Seiten der Prüflinge ungleich direkter und fordernder angesprochen wird, als es zu früheren Zeiten der Fall war. Für den Prüfer stellt sich in dieser Situation das Problem, wie er darauf reagieren soll. Diese Problematik soll im Folgenden kurz angesprochen werden. Unsere Grundprämisse ist dabei diejenige, dass das Interesse des Prüfers darin bestehen muss, möglichst nichts über die von ihm gestellte Klausur verlautbaren zu lassen.

Fragen der Prüflinge hinsichtlich des in der Klausur zu erwartenden Stoffes abzublocken, ist für einen Prüfer zwar eine zuverlässige Strategie, jedoch keine prüflingsfreundliche und keine hier zu empfehlende. Eine solche Strategie schafft eine erhebliche Distanz zwischen Prüfer und Prüflingen - die zwar ohnehin existiert, die jedoch nicht noch zusätzlich betont werden muss. Zudem verweist sie in unnötiger Ausprägung auf die Machtposition des Prü-fers, die zwar ihrerseits ebenfalls Realität ist, die jedoch auch nicht unnötig unterstrichen werden sollte (vgl. hierzu auch Kap. 4.2.5).

Die entgegengesetzte Position - die Preisgabe der von den Prüflingen erhofften Informationen - ist, wie soeben gefordert, aus der Perspektive des Prüfers ebenfalls inakzeptabel. Das elementare Interesse des Prüfers muss darin liegen, die von ihm für die schriftliche Prüfung ausgewählten Inhalte unter keinen Umständen bekanntzugeben. Hat er dieses Interesse nicht - oder gelingt es ihm nicht, dieses Geheimhaltungsstreben in die Tat umzusetzen, wird die Prüfung zur Farce und ist dann letztendlich überflüssig.

Zudem ist es für die Prüflinge wichtig, davon auszugehen, dass potentiell alles im Unterricht behandelte Material und jede kommunikative Aktivität prüfungsrelevant sind. Andernfalls würde dies eine Unterminierung der Arbeit des Dozenten, der ja gleichzeitig Prüfer ist, bedeuten, denn damit würde er eingestehen, dass Teile des Stoffes, den er im Unterricht vermittelt, bedeutungslos seien. Für die Prüflinge würde dies umgekehrt bedeuten, dass sie diesen Inhalten nicht die ihnen im Gesamtkontext ihrer eigenen Lernbiographie zukommende Bedeutung zumäßen, was letztendlich einen schädlichen Einfluss auf sie mit sich brächte.

Der Kompromiss zwischen beiden Extrempositionen besteht für den Prüfer darin, die Fragen der Prüflinge nach Preisgabe von Informationen zu den Klausurinhalten weder pauschal abzublocken noch diesen nachzugeben. In der Praxis besteht dieser Mittelweg darin, die Fragen der Prüflinge zwar zu beantworten, dies jedoch in kryptischer Form zu tun, also in der Weise, dass den Antworten des Prüfers zwar Informationen entnommen werden können, diese Informationen jedoch nicht eindeutig zu verstehen sind und auch keine verlässliche Grundlage für die Nichtberücksichtigung von Lerninhalten durch die Prüflinge bieten. Beziehen die Prüflinge auf der Basis der Aussagen des Prüfers dann bestimmte Inhalte in ihre Prüfungsvorbereitung nicht ein, so liegt das Risiko einzig und allein bei ihnen. Dies sollte der Prüfer ihnen unmissverständlich klar machen.

Diese Strategie hat die folgenden Vorteile:
  • Der Prüfer zeigt sich kooperativ und macht deutlich, dass er die Fragen der Prüflinge ernst nimmt;
  • Er verweist nicht auf seine starke Machtposition als Prüfer und verschreckt die Prüflinge somit nicht. Er verzichtet bewusst auf einen Hinweis auf sein Herrschaftswissen;
  • Der Prüfer äußert Verständnis für das Informationsbedürfnis seiner Prüflinge und gibt sich in gewisser Weise als deren Partner. Er appelliert jedoch ebenso an das Verständnis der Prüflinge für seine eigene Situation, in der er die gewünschten Informationen nicht preisgeben kann;
  • Durch seine kryptische - also verdeckte, dissimulierte, höchst indirekte - Art der Beantwortung der Fragen der Prüflinge appelliert er an deren Intelligenz: In seinen Antworten sollte somit zumindest ein Teil der von den Prüflingen gewünschten Informationen verborgen liegen. Sind diese klug genug, die verdeckten Hinweise zu verstehen, können diese für ihre Prüfungsvorbereitung nutzen. Da die Hinweise des Prüfers jedoch nicht eindeutig sind, fehlt den Prüflingen im Regelfalle die letzte Sicherheit, so dass sie sich durchaus des risikobehafteten Charakters ihres Vorgehens bewusst sind;
  • Das so entstehende Bewusstsein schafft in den Prüflingen eine Risiko-Chance-Abwägung, die sie in ihrem späteren Berufsleben ebenfalls werden anstellen müssen. Sie lernen auf diese Weise somit gleichsam für das Leben;
  • Das Gespräch über die zu erwartenden Prüfungsinhalte gestaltet sich spielerisch, wodurch ihm sein potentiell inhärenter Ernst genommen wird und eine mögliche Konfrontation zwischen Prüfer und Prüflingen gar nicht erst entstehen kann.
In der beschriebenen Form erweist sich der Prüfer letztlich als partnerschaftlich eingestellter, seine Prüflinge respektierender Kommunikationspartner.


4.2.3.2.1 Verhältnis von im Unterricht behandeltem Stoff zu neuem Stoff

Im Hinblick auf das Verhältnis von im Unterricht behandeltem und neuem Stoff, der den Prüflingen in einer schriftlichen Prüfung dargeboten wird, lassen sich im gegebenen Zusammenhang einige generelle Bemerkungen machen[3].

Jeder Prüfer sollte davon ausgehen, seinen Prüflingen in schriftlichen Prüfungen keinerlei Stoff anzubieten, der in identischer Form bereits im Unterricht durchgearbeitet worden ist. Wenn diese Aussage auch in sich unmissverständlich ist, lassen sich hier dennoch einige Einschränkungen machen, die die Klausurkonzeption wesentlich beeinflussen. Danach sind folgende Konstellationen für die Klausurstellung durchaus möglich, da sie keine vollkommene Identität des im Unterricht behandelten Stoffs und der dazu im Unterricht durchgeführten Aufgaben darstellen:
  • ein den Prüflingen bereits bekannter Text, der jedoch mit neuen bzw. neuartigen Aufgaben verknüpft wird,
  • ein den Prüflingen neuer Text, der mit ihnen bekannten Aufgaben kombiniert wird,
  • die Aufgabe der Erstellung eines Vergleichs zweier, im Unterricht vorgenommener Texte, die dort jedoch nicht miteinander verglichen worden sind.
In diesen und ähnlichen Fällen ist eine teilweise Übernahme von bekannten Texten und Aufgabenstellungen prüfungsdidaktisch zu rechtfertigen und potentiell fruchtbar.

Ganz neuer Stoff - also solcher, der mit den Prüflingen im Unterricht nie durchgearbeitet worden ist - sollte nicht Gegenstand fairer Prüfungen sein. Darunter wird hier jedoch nicht die Situation verstanden, in der den Prüflingen ein neuer Text zu einem ihnen bekannten Themenbereich angeboten wird. Gemeint ist vielmehr eine Situation, in der den Prüflingen ein ihnen unbekannter Basistext zu einem nicht mit ihnen durchgearbeiteten Themenbereich gegeben wird. Auch hinsichtlich der in diesem Zusammenhang gemachten Grundaussage ergeben sich jedoch differenzierende Aspekte. So kann vollkommen neuer Stoff in schriftlichen Prüfungen dann gegeben werden, wenn:
  • er sich nahtlos in die erfolgte Klausurvorbereitung einpasst;
  • er als Joker verwendet wird, durch den die Prüflinge sich entsprechende Zusatzpunkte verdienen können, mit deren Hilfe sie ihre Note aufbessern oder nicht gelöste Prüfungsteile kompensieren können - falls ihr Prüfer eine solche Möglichkeit für sie vorsieht;
  • vor der Prüfung vom Prüfer mehrere unmissverständliche Hinweise darauf gegeben worden sind, bestimmte Zusatzmaterialien zur Kenntnis zu nehmen, die potentiell klausurrelevant sein könnten. Diese Zusatzmaterialien sind für die Prüflinge, die sie ja im Unterricht nicht durchgearbeitet haben, neu, ihnen ist jedoch bekannt, dass diese Materialien für die jeweilige schriftliche Prüfung wichtig sein könnten. Ein solches Verhalten eines Prüfers ist dann nicht als unfair zu werten; es zielt lediglich darauf ab, die Unterrichtszeit durch zusätzliche häusliche Aktivitäten seiner Studierenden auszuweiten und im Zusammenhang damit deren Leistungen bei der selbständigen Erarbeitung von Zusatzmaterialien zu testen. Natürlich sollten auch diese dann einen gewissen Bezug zum Unterricht aufweisen und nicht zusammenhanglos zu diesem erscheinen.
Unter allen Umständen vermieden werden sollte die Verwendung neuen Stoffes für Prüfungen als Option des Prüfers, das Notenniveau seiner Prüflinge herabzusetzen. Ein solches Verhalten wäre prüfungsdidaktisch inakzeptabel.


4.2.3.2.2 Dialogizität von Klausuren 

Auch eine schriftliche Prüfung ist ein Dialog. Während mündlichen Prüfungen  gemeinhin spontan der ihnen tatsächlich inhärente dialogische Charakter zugesprochen wird, ist die dialogische Ausrichtung einer schriftlichen Prüfung ungleich weniger evident, jedoch unbestreitbar vorhanden. Im Unterschied zu einer mündlichen Prüfung - die unmittelbar durch die gegebene Gesprächssituation gekennzeichnet ist - kommt diese in einer schriftlichen Prüfung nicht direkt zum Ausdruck, unterliegt ihr aber dennoch. Diesem grundsätzlich gültigen Dialog-Charakter schriftlicher Prüfungen wollen wir uns in diesem Abschnitt widmen.

Ein grundlegender Aspekt dieser dialogischen Struktur liegt in dem Verhältnis von gestellten Fragen - bzw. Aufgaben - einerseits und den darauf gegebenen Antworten des Prüflings. Während es einem Prüfling in einer mündlichen Prüfung weitgehend unproblematisch möglich ist, um die Verdeutlichung einer nicht verstandenen Frage zu bitten, ist dies in schriftlichen Prüfungen nur dann möglich, wenn der Prüfer mit einer der Aufsichtspersonen identisch ist. Auch in diesem Falle ist die Abklärung einer unklar formulierten Frage jedoch für die Allgemeinheit der an der Klausur teilnehmenden Prüflinge störend. Daher gilt, dass die von dem Prüfer formulierten Fragen aus sich heraus verständlich sein sollten. Diese Grundbedingung ist jedoch nicht die einzige, die für eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Prüfer und Klausurteilnehmer erfüllt sein muss.

In den einzelnen Fragen muss zudem der Gültigkeitsbereich, auf den sie abzielen, klar herauskommen. Der Inhaltsbereich, auf den die Frage sich bezieht, muss also aus der Frage selbst - d.h. ohne während der Prüfung gegebene, mündliche Zusätze - verständlich sein muss. Dies bedeutet umgekehrt, dass deutlich heraustreten muss, welche Inhaltsbereiche nicht mehr in die Frage bzw. die Aufgabenstellung hineingehören. Ist dies innerhalb einer einfachen Fragestellung nicht möglich, so bestehen zum Zwecke der Verdeutlichung die folgenden Optionen:
  • die Stellung von (Unter)Fragen, die die grundlegende Aufgabenstellung ergänzen;
  • die explizite Nennung solcher Gebiete, die die Frage umfasst - mit der Bitte um deren spezielle Berücksichtigung in der Antwort;
  • die explizite Nennung solcher Gebiete, die über die Aufgabenstellung hinausgehen, also nicht für diese relevant sind, oder auch
  • die Beifügung eines die Aufgabenstellung illustrierenden Schaubildes, anhand dessen die Grundfrage zu beantworten ist.
Ein grundsätzliches Problem ergibt sich dann, wenn der Prüfer sich der Tat-sache nicht bewusst ist, dass die von ihm gestellte Aufgabe sprachlich ambig oder inhaltlich nicht klar abgegrenzt ist - eine Situation, die im Prüfungsalltag leicht auftreten kann. Für einen solchen Fall gilt, dass ein Prüfer dann, wenn er den geringsten Zweifel an der Klarheit einer von ihm formulierten Fragestellung hat, unbedingt einen Kollegen um seine Einschätzung dieser Aufgabenstellung bitten sollte, damit diese gegebenenfalls einer Disambiguie-rung zugeführt werden kann. Diese Alternative, der manche Lehrer und Dozenten sich leider nur allzu selten bedienen, ist der potentiellen Reduktion der Validität einer Klausur durch sprachliche und / oder inhaltliche Unschärfe unbedingt vorzuziehen.

Weitere kommunikativ relevante Bereiche sind derjenige der Fehlernotation in Klausuren, dem wir uns in detaillierterer Form in Kap. 7.4.1 widmen werden und der aus diesem Grunde hier nicht berücksichtigt wird, und derjenige von Lob und Tadel, der hier kurz behandelt werden soll.

Im Verlaufe mündlicher Prüfungen ist es dem Prüfer leicht möglich, seine Prüflinge - wenn er dies denn will - durch entsprechende Reaktionen zu ermuntern und somit zu höheren Leistungen anzuspornen. In schriftlichen Prüfungen können solche Mechanismen nicht entsprechend umgesetzt werden. Dennoch lassen sich Lob und - wenn nötig - Tadel zeitversetzt auch in Klausuren unterbringen: in den im Rahmen der Klausurkorrektur jeweils am Rande vermerkten Kommentaren des Prüfers.  

Dazu ist es freilich notwendig, dass Prüfer die Leistungen ihrer Studierenden auch wirklich kommentieren[4]. Die Abgabe solcher Kurzreaktionen wird von vielen Prüfern im Alltag aus Zeitmangel jedoch nicht selten unterlassen, obwohl sie für die Prüflinge bisweilen sehr wertvoll sein können. Eine solche Praxis ist unter prüfungsdidaktischer Perspektive zu kritisieren, umso mehr, als solche Kommentare durchaus in arbeits- und zeitökonomischer Art und Weise platziert werden können.

Ein Feedback sollte von Seiten des Prüfers generell in den folgenden Fällen gegeben werden[5]:

Grundsätzlich gelobt werden sollte ein Prüfling beispielsweise für:
  • jegliche, über die durchschnittliche Prüfererwartung hinausgehende Leistung;
  • jeglichen originellen inhaltlichen Gesichtspunkt der zu bearbeitenden Aufgabe;
  • die Erstellung von Zusammenhängen im Sinne von Transferleistungen, besonders dann, wenn diese von der jeweiligen Aufgabenstellung nicht verlangt worden sind und gleichsam als zusätzliche Leistung erbracht werden;
  • jegliche fremdsprachliche Leistung, die als idiomatisch und muttersprachlich eingestuft werden kann.
Im Hinblick auf seine (nicht optimalen) Leistungen aufgemuntert werden sollte ein Prüfling beispielsweise dann, wenn:
  • er intellektuell hätte besser abschneiden können - und zwar indem diese Minderleistung durch den Prüfer auf die Umstände zurückgeführt wird, nicht jedoch auf die geistige Leistungsfähigkeit des Prüflings;
  • er trotz nachgewiesenen Fleißes in einer gegebenen Klausur nicht sein volles Leistungspotential erreicht hat;
  • er fremdsprachlich schlechter abgeschnitten hat, als es seinem Leistungspotential entspricht, und der Prüfer feststellt, dass viele seiner Fehler Performanz- und nicht Kompetenzfehler sind;
  • für ihn gegenüber früheren Klausuren ein Leistungsabfall zu verzeichnen ist, der nicht auf mangelnden Fleiß zurückgeführt werden kann.
Tendenziell getadelt werden sollte ein Prüfling - unter der Voraussetzung, dass seine Minderleistungen nicht durch persönliche Probleme in seinem Umfeld verursacht werden - beispielsweise dann, wenn:
  • seine Leistung in einer gegebenen Klausur - oder auch längerfristig - abfällt und dieser Abfall durch mangelnden Fleiß bedingt ist;
  • seine Gesamtleistung oder die unzureichende Lösung einer Aufgabenstellung in einer gegebenen Klausur tendenziell von Desinteresse am Stoff geprägt ist;
  • er intellektuell oder (fremd)sprachlich in einer gegebenen schriftlichen Prüfung hätte besser abschneiden können, dies jedoch aufgrund von mangelndem Einsatz bei der Bewältigung der gestellten Aufgaben nicht getan hat.
Die Umsetzung von Lob, Ermunterung und Tadel im Einzelfall entzieht sich hier der Beschreibung: Sie obliegt dem einzelnen Prüfer und seinem persönlichen Verhältnis zum Prüfling. Abgesehen von der Empfehlung, hier einfühlsam vorzugehen, lassen sich keinerlei Hinweise formulieren. Die Prüfer seien jedoch dazu angehalten, besonders mit Kritik sparsam umzugehen und diese nie in vernichtender Form oder zur Untergrabung des Selbstvertrauens des Prüflings einzusetzen.

Im Anschluss an diese eher pädagogischen Ausführungen sei auf einen wichtigen technischen Gesichtspunkt schriftlicher Prüfungen verwiesen.


4.2.4 Terminierung der Klausur

Hinsichtlich der Terminierung von Klausuren besteht die dringende Notwendigkeit zu deren zeitlicher Entzerrung, sollen sie in prüfungsdidaktischer Perspektive abgehalten werden. Dies sei im Folgenden kurz konkretisiert.


4.2.4.1 Nur eine schriftliche Prüfung pro Tag

Im hochschulischen Kontext sollte es ein ungeschriebenes Gesetz sein, die Studierenden lediglich eine einzige Klausur pro Tag schreiben zu lassen, um deren Leistungspotential optimal zur Geltung kommen zu lassen. Nur die Umsetzung dieser Forderung, deren Umsetzung an Universitäten und Fach-hochschulen[6]  erfahrungsgemäß noch Raum für Verbesserungen offen lässt, ermöglicht den Prüfungsaktanten im Wesentlichen die Realisierung der folgenden Parameter:
  • die Ermöglichung einer gezielten Vorbereitung auf ein gegebenes (Teil)Fach, das in der Klausur abgeprüft wird;
  • eine Vermeidung von Interferenz zwischen verschiedenen (Teil)Fächern, die wenig oder nichts miteinander zu tun haben;
  • eine Verminderung von ohnehin gegebenem Prüfungsstress für beide Seiten - Prüfer und Prüflinge;
  • die Ermöglichung der Entwicklung einer Kombination von Lernrhythmus, Einteilung des Lernstoffes und Umsetzung konsequenter Lernphasen für die Prüflinge;
  • die Vermittlung eines Bildes der Wohl-Organisiertheit nach außen hin in administrativer Sicht.
Für die Realisierung dieser Forderung ist es unbedingt notwendig, dass die betroffenen Prüfer sich miteinander absprechen bzw. dass die eine gegebene Prüfung organisierenden administrativen Einheiten die zu erstellenden Prüfungspläne entsprechend miteinander abstimmen.

Zugunsten einer noch besseren Prüfungspraxis wäre es sogar wünschenswert, die soeben beschriebene Situation weiter zu optimieren und die Entstehung von Prüfungs-Clustern zu vermeiden.


4.2.4.2 Vermeidung von Klausur-Clustern

Mit dem Begriff Klausur-Cluster ist hier das Phänomen gemeint, dass an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen schriftliche Prüfungen angesetzt werden, dann jedoch an theoretisch für Prüfungen nutzbaren Terminen keinerlei Klausur angesetzt ist. Letztendlich bezieht sich der Begriff auf die sinnvolle Nutzung der zur Verfügung stehenden Prüfungsphasen und deren makrostrukturelle Optimierung. In der Praxis bedeutet dies, dass zwischen zwei gegebenen Prüfungen möglichst ein Tag liegen sollte. Wir gehen hier - in der Beschreibung dieser wünschenswerten Situation - noch einen Schritt weiter als im vorhergehenden Abschnitt - wohl wissend, dass diese Forderung im Prüfungsalltag nur schwer umzusetzen ist. Dennoch sollte ihre Realisierung - wo immer möglich - angestrebt werden. Die folgenden Argumente sprechen dabei im Wesentlichen für eine solche Organisation schrift-licher Prüfungen mit je einem zwischendurch eingeplanten Karenztag:
  • die Reduktion von (organisationsbedingtem) Prüfungsstress auf ein mögliches Minimum;
  • die Schaffung eines Tages der konzentrierten Vorbereitung auf die jeweils nächste Prüfung oder eines Tages zum Ausruhen und Auftanken;
  • die - theoretische - Möglichkeit des vergleichsweise durativen Behaltens des gelernten Stoffes, der nicht sofort wieder durch neuen Lernstoff überlagert wird;
  • ein damit verbundener, größerer Studienerfolg im Hinblick auf den längerfristigen Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten;
  • die Schaffung eines Korrekturtages für Prüfer, den sie intensiv nutzen können und mit dessen Hilfe die Ermittlung der Prüfungsergebnisse beschleunigt werden kann.
Für die Umsetzung dieser Forderung in die Prüfungspraxis mag es in verschiedenen institutionellen Kontexten bereits hinreichen, die bisher bestehenden Prüfungsphasen geringfügig zu verlängern. So würde bereits die Ansetzung der letzten beiden Semesterwochen - anstelle nur der jeweils letzten Semesterwoche - in hochschulischen Kontexten, in denen Klausuren in dezentralisierter Form im jeweiligen Kursverband geschrieben werden, eine erhebliche Entzerrung mit sich bringen. Ergänzend - oder alternativ - könnten die Prüfungsphasen in der vorlesungsfreien Zeit um eine oder zwei Wochen verlängert werden. Diese leicht umzusetzenden Maßnahmen würden somit keinen weiteren Vorlesungsausfall bewirken und hätten ungeahnte positive prüfungsdidaktische Effekte.


4.2.5 Umgang mit Macht

Der Umgang mit Macht (vgl. hierzu auch Buchwald 2007) in schriftlichen Prüfungen wird im vorliegenden Zusammenhang aus der Sicht des Prüfers im Hinblick auf die Objektivität in der Klausurstellung, die Angemessenheit der Stoffmenge im Verhältnis zu der zur Verfügung stehenden Zeit und die faire Formulierung von Arbeitsanweisungen behandelt:


                                   Abb. 52: Umgang mit Macht


Der Gesichtspunkt der Objektivität in der Stellung von Klausuren bezieht sich im vorliegenden diskursiven Kontext auf die Forderung, die Klausurinhalte in der Weise auszuwählen, dass die Prüflinge sie bewältigen können, und darauf, sich als Prüfer dabei nicht von gegebenenfalls vorhandenen, negativen Einstellungen leiten zu lassen, die sich aus der Interaktion mit den Studierenden im prüfungsvorbereitenden Unterricht ergeben haben mögen: Die Klausur stellt eine neue Situation dar, in die mögliche unterrichtliche Konflikte nicht hineingetragen werden dürfen. Ein Bestreben des Prüfers, das darin bestünde, den Studierenden - die ja nunmehr Prüflinge sind -, durch entsprechend schwierig zu bearbeitende Inhalte das Bestehen der Klausur zu erschweren oder gar zu verunmöglichen, wäre prüfungsdidaktisch verantwortungslos. Dies gilt natürlich nur für solche Fälle - die zudem in der Praxis durchaus selten vorkommen mögen -, in denen Prüfer ihre schriftliche Prüfung aus dem Grunde erschweren, weil sie sich über ihre Studierenden geärgert haben. Unsere Überlegungen beziehen sich dagegen nicht auf solche Situationen, in denen eine gegebene Klausur ohnehin - beispielsweise wegen der Komplexität der behandelten Materialien - inhaltlich schwer gestaltet würde, in der die genannten affektiven Zusammenhänge jedoch keine Rolle spielen. Prüfer sind jederzeit gefordert, zu hinterfragen, ob sie sich in ihrem Verhalten von negativen affektiven Komponenten leiten lassen. Sollten sie diese Frage für sich selbst bejahen können, so wäre es dringend vonnöten, sehr behutsam vorzugehen und ihre Klausuren inhaltlich eher zu leicht als zu schwierig zu gestalten. In ausgeprägten Fällen sollten sich solche Prüfer Kollegen oder auch einem Psychologen anvertrauen.

Auch in Bezug auf die Angemessenheit der Stoffmenge für die in der Klausur zur Verfügung stehende Bearbeitungszeit ist Fairness oberstes Gebot. Die Stoffmenge mit dem Ziel zu erhöhen, dass einige Prüflinge diese vielleicht nicht bewältigen können, wäre prüfungsdidaktisch inakzeptabel - ebenso wie die zuvor diskutierte inhaltliche Erschwerung von Klausuren. Auch in dieser Hinsicht sollten Prüfer möglichen Ärger über Studierende außen vor lassen.

Dieser Gesichtspunkt gilt ebenso für die Formulierung der jeweiligen Arbeitsanweisungen, die unter keinen Umständen machtpolitisch ausgebeutet werden darf: Auch Studierende, die ihrem Dozenten Grund zum Ärger gegeben haben, haben eine faire Chance auf eine schriftliche Prüfung, die sie mit adressatenorientierten und gut verständlichen Arbeitsanweisungen versieht und auf deren Basis sie eine gute Leistung erbringen können.

Der folgende Zusammenhang kann nicht oft genug betont werden: Negative affektive Komponenten in Form von Revanche oder Vergeltung haben in Prüfungen keinerlei Platz und sind unbedingt zu vermeiden.


4.2.6 Reproduktion und Transfer

Die Frage, ob in Klausuren mehrheitlich Reproduktion oder Transfer abgeprüft werden soll, lässt sich nicht generalisierend beantworten; Empfehlungen können hingegen durchaus gegeben werden. Dies soll im Folgenden in aller Kürze geschehen.

Die Vorteile der Abprüfung reproduktiven Wissens liegen in den folgenden Aspekten:
  • Reproduktives Wissen stellt nicht selten Basiswissen dar. Dieses ist das Fundament für jedwede weitergehende Reflexion, also auch für den Transfer von Wissen;
  • Der Erwerb reproduktiven Wissens ist der erste Schritt jeder Informationsrecherche und sollte daher auch in Klausuren der erste Schritt der Wissensabfrage sein;
  • Die Abprüfung reproduktiven Wissens ermöglicht den Prüflingen eine Konsolidierung ihres Wissensstandes und gibt ihnen im Optimalfalle Sicherheit für die Beantwortung tiefgründigerer Fragen;
  • Die Reproduktion gelernten Wissens ist intellektuell in aller Regel weniger anspruchsvoll als die Anwendung und Weiterentwicklung von Wissen. Erstere ermöglicht es somit auch denjenigen Prüflingen, die intellektuell weniger flexibel oder kreativ sind, ein gutes Prüfungsergebnis zu erzielen.
Die Vorteile der Abprüfung der Fähigkeit der Studierenden zum Transfer gelernten und somit reproduktiven Wissens liegen in den folgenden Punkten:
  • Die Fähigkeit zum Transfer von Wissen folgt zwar nicht notwendig aus der Aneignung von Wissen, sie ist jedoch ihre logische prüfungsdidaktische Konsequenz. Daher ist sie in Klausuren - und nicht nur dort - unbedingt in angemessenem Umfang abzuprüfen;
  • Ohne die Fähigkeit zum Wissenstransfer kann es keinen wissenschaftlichen - und ebenso keinen gesellschaftlichen - Fortschritt geben. Sie ist somit an prominenter Stelle abzuprüfen;
  • In der Beherrschung dieser Fähigkeit trennt sich die Spreu vom Weizen der Prüflingspopulation - und ebenso einer Gesellschaft. Daher stellt sie ein wichtiges diagnostisches Element dar, das in schriftlichen Prüfungen unbedingt genutzt werden sollte.
Eine schriftliche Prüfung, die keinerlei Transferfragen enthält, kann somit in prüfungsdidaktischer Hinsicht nicht als adäquat eingestuft werden: Sie erfüllt ein wesentliches Qualitätskriterium nicht.

Eine prüfungsdidaktisch ernstzunehmende schriftliche Prüfung sollte daher Transferfragen im Umfang von mindestens 25 % und höchstens 75 % enthalten. Ein geringerer Umfang dieser lässt die Prüfung auf eine inadäquate Qualität abgleiten; ein größerer Umfang von Transferfragen lässt die Prüfung zu anspruchsvoll werden. Empfehlenswert für anspruchsvolle, jedoch nicht zu schwierige schriftliche Prüfungen ist aus unserer Sicht ein Umfang von Transferfragen zwischen 40 % und 60 %. Dieser ermöglicht es den Prüflingen, ihr Basiswissen qualitativ und quantitativ hinreichend unter Beweis zu stellen, und er gibt ihnen die Gelegenheit, ihre potentielle intellektuelle Flexibilität in kreativer Form zu präsentieren, um auf diese Weise eine Spitzennote zu erzielen.

Nach der Behandlung dieser konzeptionellen Zusammenhänge schriftlicher Prüfungen wird es im Folgenden notwendig sein, uns der Konzeption mündlicher Prüfungen zuzuwenden.


4.3    Grundbedingungen mündlicher Prüfungen

4.3.1 Allgemeine Bemerkungen

Mündliche Prüfungen[7] sind prinzipiell ungleich schwieriger zu konzipieren als schriftliche Prüfungen, da sie stark durch die Spontaneität der interagierenden Partner - Prüfer und Prüfling - bestimmt sind (vgl. hierzu auch Kap. 2.2.1.3). Aus diesem Grunde sind sie schlechter vorplanbar als schriftliche Prüfungen, und ihr Ablauf ist nahezu unmöglich in zuverlässiger Form vorhersagbar. Daher ist es auch im gegebenen Zusammenhang lediglich möglich, einige allgemeine Aussagen zu mündlichen Prüfungen zu machen, die jedoch für die Praxis trotzdem durchaus wertvoll sein können. Es ist in diesem Bereich nur jeder Prüfer noch mehr gefordert, die im Folgenden gemachten Reflexionen auf die eigene Arbeit und das eigene Verhalten zu übertragen: Da Planung und Durchführung mündlicher Prüfungen stark von der Individualität des jeweiligen Prüfers abhängen, ist es für jeden Prüfer notwendig, diese Prüfungen auf seine Persönlichkeit abzustimmen und dabei mögliche Defizite, die er in seinem Charakter feststellt, so gut wie möglich auszuschalten. Dies setzt voraus, dass jeder Prüfer nicht zuletzt eine erhebliche Fähigkeit zur Selbstkritik mitbringen muss.

So unvollkommen mündliche Prüfungen im Gesamtkontext aller existierenden Prüfungen auch sein mögen, so notwendig sind sie. Stellen sie in jedem Fach ein wichtiges Mittel dafür dar, festzustellen, in welcher Weise Studierende ihr Fach in spontaner Kommunikation beherrschen, so sind sie insbesondere im Sprachbereich ein Muss: Es ist schlichtweg unmöglich, die Leistungen und die Leistungsfähigkeit von Studierenden in einem gesamten Sprachstudium ausschließlich in schriftlicher Form zu eruieren. Gerade im Bereich der Fremdsprachenstudien ist es daher von großer Bedeutung, deren orale Fertigkeiten zu prüfen und festzustellen, auf welchem Niveau sie die studierte Fremdsprache in spontaner Kommunikation beherrschen und in welcher Weise sie fähig sind, ihr Wissen in der Fremdsprache zu kommunizieren.

Die Überprüfung dieser Fähigkeit sollte dabei nicht nur auf das Philologiestudium beschränkt bleiben, sondern sich ebenso auf solche Studien erstrecken, die fremdsprachliche Anteile aufweisen, ohne dabei jedoch philologische Studien zu sein. Gedacht ist hier beispielsweise an Fremdsprachenstudien der Art, wie sie bereits in viele Fachhochschulstudiengänge eingebettet sind, in denen die Studierenden beispielsweise das Fach Internationale Betriebswirtschaft studieren und dabei die - bisweilen recht profunde - Kenntnis zweier Fremdsprachen nachzuweisen haben. Auch in diesem Kontext müssen mündliche Prüfungen vorkommen; auch in diesem Kontext ist es inadäquat, die Sprachkenntnisse der Studierenden ausschließlich schriftlich zu prüfen. Bereits diese kurzen Ausführungen lassen deutlich werden, von welch immenser Bedeutung mündliche Prüfungen im Allgemeinen und besonders im Fremdsprachenbereich - sowohl in den Philo-logien und ihren Fachprüfungen als auch im fremdsprachlichen Begleit- oder Ergänzungsstudium - sind.

Die folgenden Ausführungen, die auf dem Hintergrund dieser Zusammenhänge zu sehen sind, betreffen einige relevante Grundbedingungen mündlicher Prüfungen, wollen dabei jedoch keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erheben.


4.3.2 Situatives Umfeld

Mündliche Prüfungen sollten in einem situativen Umfeld stattfinden, in dem sie für alle Beteiligten gut zu ertragen sind[8]. Die Bedingungen, die im Folgenden zu beschreiben sind, mögen bisweilen trivial anmuten, ihre Behandlung ist jedoch von großer Bedeutung, da sie in der Praxis oft gerade nicht beachtet werden. Ihre Behandlung erscheint daher hier notwendig.

Der Prüfungsraum sollte eine angenehme Atmosphäre ausstrahlen. In Prüfungsämtern herrscht nicht selten eine Atmosphäre vor, die Prüflingen bereits unabhängig von der eigentlichen Prüfungssituation Angst einflößt, und in manchen Büros von Prüfern, in denen mündliche Prüfungen oft alternativ stattfinden, ist dies bisweilen nicht anders. Zur Vermeidung einer solchen, leicht als emotional kalt empfundenen Atmosphäre sollten sich zumindest einige Pflanzen im Raum befinden. Es darf dort auch ein wenig Unordnung herrschen, damit der Raum nicht allzu steril wirkt. Als Grundregel kann gelten, dass der Eindruck vermittelt werden sollte, dass der Prüfungsraum nicht nur für Prüfungen verwendet wird, sondern dass er auch anderen Zwecken - wie beispielsweise dem Arbeiten - dient. Entsteht bei den Prüflingen ein solcher Eindruck, dann kann dieser zu einer Verringerung der Prüfungsangst führen.

Im Prüfungsraum sollte zudem eine angenehme Temperatur herrschen. Im Winter sollte der Raum gut geheizt - dabei aber nicht überheizt - sein, weil Prüflinge, die nervös sind oder gar Angstgefühle haben, naturgemäß schneller frieren. Im Sommer sollte der Raum gut gelüftet oder mit Klimaanlage ausgestattet sein, damit zu große Hitze nicht das Denken beein-trächtigt. Die Nichterfüllung dieser Grundbedingung kann mündliche Prüfungen nachhaltig negativ beeinflussen.

Im Prüfungsraum sollte zudem kein zu hoher Lärmpegel herrschen. Gerade im Sommer sollte darauf geachtet werden, dass nicht solche Räume für Prüfungen genutzt werden, die auf eine befahrene Straße hinausgehen, denn wenn wegen der Hitze die Fenster geöffnet werden müssen, kann der von der Straße hineindrängende Lärm die Konzentration der Beteiligten herabsetzen und dadurch das Prüfungsergebnis nachhaltig beeinträchtigen. Auch diese Bedingung erscheint nur auf den ersten Blick trivial: Erfahrene Prüfer wissen, dass sie bei mündlichen Prüfungen allzu oft nicht erfüllt ist.

Zur Gewährleistung einer angemessenen Interaktion zwischen Prüfern und Prüfling sollte der räumliche Abstand zwischen diesen angemessen sein. Ein allzu großer Abstand verringert die Kommunikativität des Prüfungsgesprächs; ein zu geringer Abstand lässt die Situation zu „vertraut“ erscheinen und ist somit dem formalen Charakter der Prüfung nicht adäquat. In Abhängigkeit von der Gesamtgröße des Prüfungsraums sollte daher ein solcher Abstand gewählt werden, der allen Beteiligten angenehm erscheint. Im Idealfall sollte ein kleiner bis mittlerer Tisch von 0,8 bis 1,5 Metern Durchmesser Prüfer und Prüfling trennen. Größere Tische wirken eher kommunikationsbehindernd. Dass ein Tisch überhaupt vorhanden ist, ist von großer Bedeutung, da er den beteiligten Personen psychologisch als eine Art Schutzwall dienen kann, der eine direkte „Konfrontation“ zwischen ihnen reduziert oder im Idealfall vermeidet.

Auf dem genannten Tisch sollten nicht allzu viele Unterlagen liegen, und vor allem keine solchen, die die Prüfung nicht betreffen. Ebenso sollte eine allzu große Unordnung auf diesem Tisch vermieden werden, denn diese könnte sich negativ auf das Denken der beteiligten Interaktionspartner auswirken. Läge hingegen gar nichts auf diesem Tisch - was jedoch in der Praxis kaum vorkommen dürfte -, dann würde dieser unnatürlich steril wirken. Grundregel sollte also sein, einige wenige, funktional platzierte Dokumente auf diesem Tisch zu haben, die den Ablauf der Prüfung so wenig wie möglich beeinflussen.

Mündliche Prüfungen erfordern in aller Regel die Anwesenheit eines Beisitzers, der entweder ausschließlich diese Funktion hat oder bei dem es sich um den jeweiligen Zweitprüfer handelt, der den Prüfungsteil seines Kollegen protokolliert. In vielen Prüfungen stellt das geprüfte Fach somit nicht das Fachgebiet des Beisitzers dar. Wenn die Anwesenheit eines solchen Beisitzers auch nicht vermieden werden kann, so sollte dieser jedoch darauf achten, dass er den Ablauf der Prüfung nicht beeinflusst. Er sollte somit nicht allzu beflissen und betont konzentriert mitschreiben, da dies den Prüfling irritieren kann. Ebenso sollte er nicht kritisch schauen - meist kennt er die erwünschten Antworten ja nicht einmal -, um den Prüfling nicht zu verunsichern. Betont zustimmendes Nicken kann zwar psychologisch förderlich sein; wenn der Prüfling sich jedoch gerade fachlich auf dem falschen Pfad bewegt, kann diese Art der Motivation kontraproduktiv wirken. Diese drei Beispiele zeigen, dass der Beisitzer sich so ruhig wie möglich verhalten sollte und den fachlichen Abstand, den er in funktionaler Hinsicht zu dem Prüfungsgeschehen hat, auch durch sein Verhalten zum Ausdruck bringen sollte. Nur auf diese Weise ist gesichert, dass er die Prüfung nicht ungebührlich beeinflusst.

Bei mündlichen Prüfungen, die öffentlich sind, sollte darauf geachtet werden, dass die Anzahl der Zuhörer auf einige wenige begrenzt ist. In aller Regel handelt es sich bei diesen Zuhörern ja um solche Studierende, die in einem der folgenden Semester selbst die entsprechende Prüfung ablegen müssen, und sich eine Vorstellung von den Abläufen und der Art der Prüferfragen machen möchten. Naturgemäß sind diese zukünftigen Prüflinge - wie der aktuelle Prüfling - dann ebenfalls aufgeregt. Diese Aufregung wird folglich ebenfalls im Raum spürbar und lädt gleichsam die Atmosphäre auf, was wiederum den Prüfling und seine Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Die zuhörenden Studierenden selbst werden - besonders durch suboptimal verlaufende Prüfungen - noch nervöser, als sie dies im Vorhinein ohnehin waren, so dass ihre Anwesenheit auch aufgrund dieses Zusammenhanges fragwürdig erscheint. Eine solche Entwicklung ist zum Schutze des geprüften Kandidaten - und ebenso der zukünftigen Kandidaten - unbedingt zu vermei-den, was dadurch geschehen kann, dass Zuhörer möglichst nicht oder nur in Ausnahmefällen zu mündlichen Prüfungen zugelassen werden.

Graphisch lassen diese Zusammenhänge sich wie folgt darstellen:
                          Abb. 53: Situatives Umfeld mündlicher Prüfungen



4.3.3 Gruppen- oder Einzelprüfung

Eine essentielle Problematik bei mündlichen Prüfungen besteht in deren prinzipieller Ausrichtung, also darin, ob es sich bei ihnen um Gruppen- oder Einzelprüfungen handelt. Diese Problematik wird in unterschiedlichen Studienfächern jeweils verschieden gelöst. So herrschen im Fach Rechtswissenschaft in aller Regel Gruppenprüfungen vor. In den Philologien und in sprachpraktischen Teil- oder Ergänzungsstudien der Universitäten und Fach-hochschulen stellt die breite Mehrheit der mündlichen Prüfungen Einzelprüfungen dar. Aufgrund dieser Verhältnisse wollen wir uns hier nicht ausführlich mit Gruppenprüfungen befassen, sondern uns auf mündliche Einzelprüfungen konzentrieren. Deren Vorteile treten jedoch umso klarer zu Tage, wenn man sich die Nachteile mündlicher Gruppenprüfungen vergegenwärtigt. Diese bestehen im Wesentlichen in den folgenden Gesichtspunkten. Mündliche Gruppenprüfungen:
  • stellen eine unangemessene Form prüfungstechnischer Zeitersparnis dar;
  • repräsentieren allein aufgrund der Bündelung mehrerer Prüflinge - die sich nicht unbedingt besonders gut kennen und sich im Extremfall unsympathisch sind - eine Stress-Situation hohen Ausmaßes;
  •  stellen - allein durch die in der Regel anzutreffende, räumliche Verteilung von Prüfern und Prüflingen in zwei einander jeweils gegenübersitzenden Reihen - eine kommunikative Konfrontationssituation dar;
  •  suggerieren einen hochgradig formellen Charakter, der auf die Prüflinge einschüchternd wirkt;
  • sagen mehr über die Konkurrenzfähigkeit und das Konkurrenzdenken der Prüflinge aus als über deren intellektuelle Fähigkeiten;
  • stellen eine Situation dar, in der die Herausstellung der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten auf Kosten der Mitkonkurrenten positiv sanktioniert wird: Es geht für den einzelnen Prüfling nicht nur darum, sich selbst in einem möglichst positiven Licht zu zeigen, sondern ebenso darum, seine Mitprüflinge möglichst schlecht aussehen zu lassen;
  • fördern spontane Prüflinge, die schnell reagieren, jedoch nicht immer tiefgehend reflektieren;
  • stehen für eine Notenverteilung, die an der Population der Prüflinge orientiert ist, nicht dagegen für eine Notenverteilung, die die objektiven Leistungen der Prüflinge widergibt;
  • verführen die Prüfer zudem dazu, nicht die Gesamtpopulation aller Prüflinge zur Grundlage der Bewertung des Einzelnen zu machen, sondern lediglich diejenige Teilpopulation, die die jeweilige Gruppenprüfung ablegt. Somit ist bereits die zufällige Zusammengruppierung der Prüflinge zueinander ein entscheidendes Kriterium für deren Prüfungserfolg oder -misserfolg. Mündliche Gruppenprüfungen büßen daher jegliche Chance auf Objektivität in der Notenvergabe ein;
  • machen es Prüfern unmöglich, auf den einzelnen Prüfling einzugehen und ihn individuell zuverlässig zu bewerten. Da mündliche Gruppenprüfungen tendenziell eher in Massenfächern abgehalten werden, stellen sie den Abschluss einer langen Reihe von Student-Dozent-Interaktionen dar, die im Allgemeinen weder während des Studiums noch in der Prüfungsphase von Individualität geprägt sind: Der Studierende bzw. Prüfling kommt während seiner gesamten akademischen Ausbildung kaum über einen mehr oder minder anonymen Status hinaus.
Aus diesen Gründen ist von der Fortführung mündlicher Gruppenprüfungen an deutschen Hochschulen dringend abzuraten. Diese Prüfungsform unterstützt den persönlichen Egoismus der Studierenden und hat nicht das Geringste mit der Entwicklung und dem Nachweis von Teamfähigkeit zu tun. In Gruppenprüfungen scheitern am ehesten diejenigen Studierenden, die tiefgehende Reflexion aufweisen, für diese jedoch ein wenig mehr Zeit benötigen, und die mittel- und langfristig für die Wissenschaft von hohem Wert sein können. Allein dieses Argument ist von hinreichender Durchschlagskraft für die generelle Abschaffung mündlicher Gruppenprüfungen. Die einzige Realisationsform mündlicher Prüfungen kann somit darin liegen, diese als Einzelprüfung durchzuführen:


Abb. 54: Primat der Einzelprüfung

Diese Empfehlung sollte in der deutschen Hochschullandschaft umgehend respektiert und entsprechend umgesetzt werden.


4.3.4    Interaktion Prüfer / Prüfling

4.3.4.1 Geistige Präsenz des Prüfers

Prüfer in mündlichen Prüfungen müssen sich unter allen Umständen durch eine beachtliche geistige Präsenz auszeichnen. Diese ist aus dem Grunde von so großer Bedeutung, weil sie unmittelbar auf den Ablauf der Prüfung einwirkt und somit nicht zuletzt über Erfolg oder Misserfolg des Prüflings entscheidet. Dies wird deutlich, wenn man sich beispielhaft die Optimalsituation vergegenwärtigt. Ein geistig präsenter Prüfer:
  • geht gut vorbereitet in jede seiner mündlichen Prüfungen;
  • reagiert spontan auf die Gedankengänge seines Prüflings, auch dann, wenn diese inhaltlich unerwartet sind;
  • kann die jeweils folgende Frage auf der Basis des vom Prüfling zuvor Gesagten ableiten;
  • vermag es, „zwischen den Zeilen“ Fragen zu stellen, also auch solche Gesichtspunkte ansprechen, die der Prüfling lediglich implizit erwähnt;
  • ist mit relativ großer Wahrscheinlichkeit in der Lage, abzuschätzen, welche Fragen der Prüfling wird beantworten können und welche ihm Schwierigkeiten bereiten können. Dann hat er die Option, diese Fragen zu stellen oder auch nicht. Für welche Option er sich auch immer entscheidet, sie wird eine begründete sein;
  • stellt keine oder relativ wenige Standardfragen, die von den Prüflingen vorhersehbar sind (oder die bereits aufgrund von Mundpropaganda auf den Fluren kursieren);
  • macht jede mündliche Prüfung zu einer wirklich individuellen Prüfung;
  • ist in der Lage, das Wissen seines Prüflings effizient und in dessen voller Breite und dessen ganzer Tiefe auszuloten;
  • ist in der Lage, Prüflinge mit ähnlichen Themenbereichen hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit zu vergleichen, auch ohne sie Standardfragen zu unterwerfen;
  •  lernt mit jeder Prüfung hinzu und entwickelt mehr und mehr Prüfungskompetenz;
  • hat die Chance, im Verlaufe seiner Prüfertätigkeit zu einem wahren Prüfungsexperten zu werden;
  • ist in der Lage, sein Wissen über Prüfungen und die in ihnen ablaufenden Mechanismen an den Nachwuchs weiterzugeben, da er jede seiner Prüfungen bewusst erlebt und effizient nachbereitet;
  • ist ein Garant für das Streben gegen jegliche hochschulische „Massenabfertigung“ in Prüfungen.
All das kann ein geistig nicht oder wenig präsenter Prüfer nicht leisten. Diese Gesichtspunkte lassen somit implizit deutlich werden, welche Schäden ein geistig nicht hinreichend präsenter oder gar vorwiegend abwesender Prüfer anrichten kann.


4.3.4.2 Unbedingte Disziplin des Prüfers

Ebenso wie er geistige Präsenz zeigen sollte, sollte jeder Professor oder Dozent, der mündliche Prüfungen abnimmt, unbedingte Selbstdisziplin üben - sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Im Folgenden befassen wir uns zunächst mit der quantitativen Dimension der Selbstdisziplin.

Selbstdisziplin in quantitativer Hinsicht bedeutet, dass Prüfer in mündlichen Prüfungen so wenig wie möglich sprechen sollten. Die Sprechanteile stehen vielmehr den Prüflingen zu. Diese haben die situative Priorität; sie sind es, die ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen haben, nicht der Prüfer. Prüfer müssen sich daher bewusst machen, dass sie, je mehr sie selbst reden, ihren Prüfling umso mehr dieser Chance zur Selbstdarstellung berauben und damit potentiell seinen Prüfungserfolg herabsetzen. Die Zeit ist bei mündlichen Prüfungen unweigerlich begrenzt, so dass sich nur einer profilieren kann: Dieser eine sollte der Prüfling sein!

Ebenso bedeutsam wie die quantitative Selbstdisziplin von Prüfern ist deren qualitative Selbstdisziplin. Diese bezieht sich auf die Tiefe der während der Prüfung angestellten Reflexionen und auf das vom Prüfling verlangte, akade-mische Aspirationsniveau. Prüfer sollten sich dessen bewusst sein, dass das vom Prüfling verlangte Niveau denjenigen Erwartungen gleichkommen sollte, die einem sechs- bzw. achtsemestrigen Studium entsprechen. Bei äußerst begabten Prüflingen darf in Ausnahmefällen darüber hinausgegangen werden; den Regelfall sollte diese Situation jedoch nicht darstellen. Prüfer haben sich somit in der Weise zu kontrollieren, dass sie sich das studentische Niveau immer wieder vor Augen führen und nicht von den Leistungen ausgehen, zu denen sie selbst imstande sein mögen. Lange Ausschweifungen auf höchstem akademischem Niveau sind für mündliche Prüfungen somit in aller Regel unproduktiv. Um nicht den gegenteiligen Effekt zu erzielen - also konstant auf zu niedrigem intellektuellen Niveau zu verharren -, ist es für Prüfer ratsam, die Strategie zu wählen, nach der sie ihren Prüfling langsam zu immer höheren intellektuellen Leistungen führen und dann, wenn sie merken, dass dieser nicht weiter mitgehen kann, auf dem erzielten Niveau verharren und die Prüfung auf diesem fortführen. Kann der Prüfling dieses in einer Prüfung erzielte, relativ gesehen höchste Niveau halten - fällt er also nicht ab -, so ist dies bereits eine positive Leistung in sich. Die Realisation einer solchen, für mündliche Prüfungen fruchtbaren Gesprächsführungsstrategie setzt nicht nur eine hohe fachliche Kompetenz des Prüfers voraus, sondern zudem - und nicht weniger bedeutsam - eine hohe Kommunikations- und Empathiefähigkeit. Diese Zusammenhänge gelten für inhaltlich ausgerichtete mündliche Prüfungen, wie sie an philologischen Seminaren durchgeführt werden.

Für Fremdsprachenprüfungen gelten diese Ausführungen analog, jedoch in etwas anderer Ausrichtung. In ihrem Rahmen sollte der Prüfer den Prüfling durch seinen eigenen, in der jeweiligen Sprache verwendeten Stil zu immer höheren sprachlichen Leistungen führen. Der Sprachstil des Prüfers sollte am Anfang einer Prüfung entsprechend auf dem mittleren Niveau eines gebildeten Muttersprachlers angesiedelt sein und sich im Laufe der Prüfung auf allen linguistischen Ebenen - also in der Lexik ebenso wie in der Syntax, der Textlinguistik und der Pragmatik - immer weiter steigern und im Idealfall so gestaltet sein, dass die Prüfung auch in interkultureller Perspektive wie ein Gespräch zwischen gebildeten Muttersprachlern über ein anspruchsvolles Thema abläuft. Für die Erzielung dieses Effektes bedarf es einer außerordentlichen Sprachbeherrschung des Prüfers, der den Prüfling durch sein Vorbild zu immer höheren Leistungen geleitet und ihn seinem höchsten Performanzpotential zuführt.

Auch wenn wir soeben optimale Situationen des Prüferverhaltens beschrieben haben, die realistischerweise nicht in der Mehrzahl aller mündlichen Prüfungen in dieser Form realisiert werden können, sei hier dennoch betont, dass das hier beschriebene Niveau durchaus erreichbar ist - und dies nicht nur in Sternstunden mündlicher Prüfungen, sondern in einem nennenswerten Anteil solcher. Die einfache Bereitschaft zur Anerkennung der Gültigkeit dieser Zusammenhänge durch Prüfer und Prüflinge stellt dabei eine wesentliche Voraussetzung für deren tatsächliche Realisierbarkeit dar.

Wir kommen nunmehr zu einem potentiell auftretenden, negativen Gesichtspunkt mündlicher Prüfungen.


4.3.4.3  Keine Machtspiele

Eine problematische Situation, die in mündlichen Prüfungen prinzipiell nicht auszuschließen ist, besteht in dem Ablauf von Machtspielen. So ist Buchwald in der Einschätzung beizupflichten:

Prüfungserfolg hängt somit auch von den Machtverhältnissen bzw. den kompatiblen Inter-aktionsmustern in der jeweiligen Dyadekonstellation von Prüfling und PrüferIn (ab; sic!) (Buchwald 2007: 162).

Bei Machtspielen zwischen Prüfer und Prüfling wird Letzterer in aller Regel der Unterlegene sein. Machtspiele können generell sowohl in quantitativer Hinsicht vonstattengehen, beispielsweise dann, wenn der Prüfer lange Monologe hält und der Prüfling sich seine eigene Redezeit regelrecht erkämpfen muss. In qualitativer Hinsicht sind Machtspiele in der Weise denkbar, dass der Prüfer sich absichtlich auf einem intellektuellen Niveau bewegt, dem der Prüfling auf der Basis seiner bis dahin erfolgten akademischen Ausbildung auch beim besten Willen nicht folgen kann (vgl. Kap. 4.3.4.3). Kehrt man die im vorherigen Abschnitt angestellten, positiv ausgerichteten Überlegungen in ihr Gegenteil um, kommt man zu dem Phänomen, das wir im gegebenen Zusammenhang mit dem Begriff Machtspiele belegen. Wir wollen uns hier daher nicht weiter mit möglichen Abläufen solcher Spiele beschäftigen, sondern kurz auf deren psychologische Hintergründe eingehen.

Machtspiele können spontan während einer gegebenen mündlichen Prüfung entstehen und auf dem Bemühen des Prüfers begründet sein, die Situation zu beherrschen und deutlich zu machen, dass er die alleinige Koryphäe ist und somit die situational einzige, akademisch ernstzunehmende Autorität. Prüfer, die in dieser Weise handeln, sind oft mit einem eingeschränkten Selbstwertgefühl ausgestattet und leben in der ständigen Angst, als inkompetent angesehen werden zu können[9]. Durch ihre eigene akademische Überlebensstrategie gefährden sie dann den Prüfungserfolg ihrer Studierenden. Prüfern, die in der beschriebenen Weise handeln, sollte psychologische Hilfe angeboten werden, damit sie diese - oft vollkommen unbegründeten - Ängste verlieren und sich ihren Studierenden als faire und menschlich angenehme Prüfer präsentieren können.

Über diese Zusammenhänge hinaus können Machtspiele jedoch ebenso nicht erst aus der Prüfungssituation heraus geboren sein, sondern das Ergebnis (lange) vor einer gegebenen mündlichen Prüfung abgelaufener, negativer Interaktionsmuster darstellen.


4.3.4.4  Schaffung von Angstfreiheit durch den Prüfer

Angstfreiheit[10] ist als conditio sine qua non für erfolgreiche Prüfungen zu sehen. Nur in einer Situation der Angstfreiheit ist es Prüflingen möglich, optimale Leistungen zu erbringen und ihr persönliches Potential voll auszuschöpfen. Werden Prüflinge hingegen absichtlich oder unabsichtlich in eine angstdominierte Position gebracht - eine Position, die sie lähmt und die ihre Denkfähigkeiten herabsetzt -, werden sie nicht in der Lage sein, Leistungen zu erbringen, die ihrem intellektuellen Niveau entsprechen. Folglich werden sie dann nicht die ihrem Leistungspotential entsprechende Note erzielen können. Wir sprechen hier - um Missverständnissen vorzubeugen - von einer Situation emotionaler Paralysiertheit, nicht hingegen von einer Situation des positiven Leistungsdrucks, die in aller Regel anspornend, motivierend und leistungsfördernd wirkt. Im vorliegenden Zusammenhang geht es vielmehr um Existenzangst bei der Verteilung von Lebenschancen. Die Schaffung von Angstfreiheit im Rahmen mündlicher Prüfungen ist somit keine Option, sondern eine Obligation.

Im Rahmen der Möglichkeiten, über die ein Prüfer verfügt, Angstfreiheit in mündlichen Prüfungen zu erzeugen, soll hier als Grundregel, die alle zu diesem Aspekt folgenden Reflexionen inkludiert, gelten, den Prüfling als (gleichwertigen) Menschen zu akzeptieren und ihn nicht als (untergeordnetes) Subjekt zu sehen. Hat ein Prüfer diese Einstellung (erworben), dann braucht er an dieser Stelle im Grunde nicht weiterzulesen, dann erscheinen ihm die nun folgenden Überlegungen nur natürlich. Für solche Prüfer, die diesen Zustand der inneren menschlichen und fachlichen Gesetzheit noch nicht erreicht haben, mögen die folgenden Ausführungen hingegen den einen oder anderen bedenkenswerten Aspekt beinhalten. Für eine bessere Nachvollziehbarkeit stellen wir die folgenden Reflexionen wieder im Sinne einer Optimalsituation dar. Zudem sei hier betont, dass wir uns an dieser Stelle auf menschliche und im eigentlichen Sinne nicht-akademische Aspekte beschränken, da jene akademisch-fachlichen Gesichtspunkte, die bereits in den vorhergehenden Abschnitten zum Ausdruck gekommen sind, auf ihre Weise zur Schaffung einer Atmosphäre der Angstfreiheit beitragen können (vgl. Kap. 4.3.4.2 und 4.3.4.3). Graphisch lassen sich diese Gesichtspunkte wie folgt darstellen:

Abb. 55: Schaffung von Angstfreiheit durch den Prüfer


Kommen wir nun zu der Behandlung der einzelnen Punkte:

·    Ruhiges und besonnenes Verhalten der Prüfers:
Der Prüfer sollte - besonders angesichts der in der Prüfungssituation im Allgemeinen ohnehin herrschenden Unruhe und Hektik - eine große Ruhe ausstrahlen, die dem Prüfling Sicherheit gibt und ihm hilft, seine eigene Nervosität zu vermindern. Ist der Prüfer selbst unruhig - was nicht selten der Fall ist -, so sollte er alles Erdenkliche dafür tun, diese Unruhe nicht zu zeigen und sie schon gar nicht auf den Prüfling zu übertragen: Fahriges, zerstreutes Verhalten kann nämlich rasch zu einer Aufladung der ohnehin vorhandenen Spannung führen, durch die die Nervosität des Prüflings noch mehr gesteigert wird. Hierzu zählen nervöses Hüsteln ebenso wie ein unruhiger Blick, der Vermeidung von Blickkontakt zu Mitprüfer(n) und Prüfling und schließlich das hektische, jedoch dysfunktionale Hantieren mit vorhandenen Papieren oder Schreibwerkzeugen. Die oberste Maxime des Prüfers sollte also sein, die größtmögliche Ruhe auszustrahlen und in der gegebenen Situation wie ein „Fels in der Brandung“ aufzutreten.

·    Freundliches Minenspiel:
Eine nahezu ebenso wichtige Maßnahme wie die zuvor diskutierte ist das unbedingte Bemühen des Prüfers um ein freundliches Minenspiel. Der Gesichtsausdruck ist in diesem Zusammenhang von erheblicher Bedeutung, da er dem Menschen bekanntlich die umfangreichsten Möglichkeiten zur Darstellung seiner Gefühlsregungen gibt. Aus diesem Grunde ist die Kontrolle dieser von Seiten des Prüfers entscheidend. Gefühle wie Ärger, Wut, oder Erregung jedweder Art äußern sich fazial ebenso wie innere Anspannung, Nervosität oder Angst. Die Kontrolle dieser mit dem Ziel, dass sie - wenn vorhanden - nicht die Oberfläche erreichen und nicht im Gesicht des Prüfers sichtbar werden, ist somit von erheblicher Bedeutung. Der Weg dazu ist ein betont freundlicher Gesichtsausdruck, der von Zeit zu Zeit von einem Lächeln unterstützt wird. Darüber hinaus ist wichtig, dass die Augen des Prüfers seine übrige Physiognomie unterstützen sollten, um deren Glaubwürdigkeit zu erhöhen und um die gezeigten Gefühle als authentisch auszuweisen.
Ein auf diese Weise abgesichertes Minenspiel der Freundlichkeit kann dem Prüfling ein hohes Maß an Sicherheit vermitteln und ihn indirekt zu deutlich höheren Leistungen führen als es der Fall wäre, wenn er sich der Sympathie seines Prüfers während des Prüfungsgesprächs immer wieder versichern müsste und dadurch wertvolle, für die inhaltliche Seite der Prüfung notwendige Aufmerksamkeit einbüßen würde.

·   Eine freundliche, ruhige Stimme:
Zusätzlich zu einem freundlichen Minenspiel ist es für einen Prüfer wichtig, den Prüfling mit einer ebenfalls freundlichen und darüber hinaus ruhigen Stimme anzusprechen. Wie das Spiel der Augen unterstützt diese nicht nur das freundliche Minenspiel, sondern gibt dem Prüfling zusätzliche Sicherheit hinsichtlich des Feedbacks auf seine eigene Leistung. Auch bei Fehlern des Prüflings und bei falschen Antworten sollte die Stimme des Prüfers nie schroff werden, weil damit verunsichernde und leistungsmindernde Kritik transportiert würde.
Die Stimme des Prüfers sollte trotz der Berücksichtigung dieser Zusammenhänge jedoch immer fest und sicher klingen, weil sie dem Prüfling nur dann Vertrauen gibt. Eine Prüferstimme, die unsicher klingt oder gar brüchig ist, vermittelt dem Prüfling das Gefühl, dass der Prüfer mehr mit sich selbst als mit dem Prüfling zu tun habe. Ein solcher Eindruck ist kontraproduktiv, da er auf den Prüfling verunsichernd wirken kann.

·    Höflichkeit:
Eine grundlegende Bedingung für eine erfolgreiche Interaktion zwischen Prüfer und Prüfling während mündlicher Prüfungen ist die Bezeugung gegenseitiger Höflichkeit. Höflichkeit - die, und dies sei hier besonders betont, natürlich dem Prüfer vom Prüfling ebenso entgegen gebracht werden muss - ist nicht nur die Basis menschlichen Zusammenlebens, sondern auch diejenige, die den Weg zu einer Meisterung von Stress-Situationen ebnet. Ohne Höflichkeit gibt es keinen Respekt; ohne Respekt kann keine Interaktion entstehen, die auf gegenseitiger Achtung basiert und die letztendlich die fachkundige Erörterung von Sachfragen in adäquater, distanzierter Haltung erst ermöglicht. Höflichkeit ist somit der Weg hin zu der erörterten Sache - weg von (allzu) menschlichen Befindlichkeiten. Sie stellt somit eine wesentliche Grundbedingung gegenstandsorientierter Kommunikation dar.
Höflichkeit ist somit ungleich mehr als nur gesellschaftliche Konvention: Sie ist die Wegbereiterin für gerade solche Interaktionsformen, die in akademischen mündlichen Prüfungen die entscheidende Rolle spielen. Zudem ist sie der Schlüssel für die Realisierung der zuvor hinsichtlich des Minenspiels und der Stimme des Prüfers behandelten Voraussetzungen.

·    Gegenseitiger Respekt:
Sind die zuvor diskutierten Bedingungen erfüllt, so ist das daraus entstehende Ergebnis gleichsam zwingend das Vorhandensein von Respekt. Auch hier sei betont, dass der Respekt nicht allein vom Prüfer auszugehen hat, sondern ebenso vom Prüfling, der seinen Prüfer ebenfalls zu respektieren und ihm dies deutlich zu zeigen hat. Ist in mündlichen Prüfungssituationen gegenseitiger Respekt vorhanden, so können diese kaum in anderer als einer sehr zivilisierten - und dies bedeutet in der dargestellten Situation, in fairer - Art und Weise ablaufen. Wie die gegenseitige Höflichkeit unterstützt der mutuale Respekt die grundsätzliche Fachorientierung von Prüfungsgesprächen und führt zu einer Ausblendung (zwischen)menschlicher Befindlichkeiten. Er ist somit Garant für den prinzipiell reibungslosen Ablauf mündlicher Prüfungsgespräche.

·    Expliziter Ausdruck von Lob:
Der Ausdruck von Lob ist in mündlichen Prüfungen in zwei Ausprägungen von Bedeutung:
·  in Bezug auf frühere Studienleistungen des Prüflings und
· in Bezug auf korrekte Antworten des Prüflings während der Prüfung selbst.
Lob hinsichtlich früherer Studienleistungen des Prüflings sollte immer am Anfang einer mündlichen Prüfung stehen. Es zeigt zum einen, dass der Prüfer den Prüfling von früheren fachlichen Interaktionen - aus Seminaren und Vorlesungen, aus Klausuren und vorangegangenen mündlichen Prüfungen - her kennt und sich an seine Leistungen erinnert. Auf diese Weise wird dem Prüfling das Gefühl genommen, vollkommen unbekannt - gleichsam „nur eine Nummer“ - zu sein. Zudem macht ein solches Lob dem Prüfling deutlich, dass er durchaus einen gewissen Kredit bei seinem Prüfer hat und nicht „als unbeschriebenes Blatt“ gleichsam von Null beginnen muss, um die Prüfung (gut) zu bestehen. Ein solches Verhalten des Prüfers gibt dem Prüfling gleich zu Beginn des Prüfungsgesprächs Sicherheit, was einen entscheidenden Einfluss auf dessen weiteren Fortgang haben kann.
Lob für korrekte Antworten in der jeweiligen Prüfung selbst sollte immer unmittelbar ausgesprochen werden. Dies muss im Einzelfall zwar nicht in überschwänglicher Form geschehen, das Lob sollte jedoch deutlich wahrnehmbar - entweder verbal oder nonverbal (beispielsweise durch Kopfnicken des Prüfers) - zum Ausdruck gebracht werden. Ein solches Prüferverhalten gibt dem Prüfling nicht nur allgemein Sicherheit, sondern kann ihn auch in Bezug auf konkrete fachliche Einzelaspekte mit mehr Mut versorgen und ihn somit zu ungeahnten akademischen Leistungen führen. Dies ist ein wünschenswerter Nebeneffekt eines solchen Prüfer-verhaltens, das nicht nur zu besseren Prüfungsergebnissen führt, sondern letztendlich auch dem Prüfer eine größere Interessantheit der Situation offeriert.

·    Vermeidung von Kritik:
Mit der wünschenswerten Äußerung von Lob geht in direkter Linie die Notwendigkeit der Vermeidung von Kritik während des Prüfungsgesprächs einher. Kritik – so nötig sie im Lernprozess allgemein sein mag – hat in mündlichen Prüfungen keinerlei Berechtigung, da sie einen hochgradig negativen Einfluss auf das Prüfungsgeschehen haben kann. Inhaltliche Korrekturen durch den Prüfer sind nur dann zu rechtfertigen, wenn der Prüfling ohne sie in eine dezidiert falsche Richtung driften würde und der Prüfungserfolg nachhaltig gefährdet wäre. Kritik, die nur dazu dient, deutlich zu machen, dass der Prüfer recht hat, nicht aber der Prüfling, hat dagegen keinen Platz. Sie würde den Prüfling nur unnötig verunsichern und ihn aus dem Konzept bringen: Jegliche kritischen Kommentare, die die intellektuelle Tiefe der vom Prüfling angestellten Reflexionen betreffen, sollten daher unterlassen werden.

·    Behutsame Korrekturen:
Korrekturen, die notwendig sind, um den Prüfling vor größerem Schaden zu bewahren, sollten auf behutsame Art und Weise angebracht werden. Der Prüfer sollte dem Prüfling deutlich machen, dass die Korrektur unvermeidlich ist, und dass er sie aus gutwilligen Beweggründen heraus vornimmt, um ihm damit zu helfen. Nur unter dieser Bedingung versteht der Prüfling das Verhalten des Prüfers als positive Sanktion und kann daraus für den weiteren Verlauf der Prüfung eine Leistungsmotivation ableiten. Interpretierte er dagegen die Korrektur des Prüfers negativ, könnte diese ihn derart irritieren, dass sie sich auf die weitere Prüfung nachteilig auswirken könnte. In einer solchen Situation erschiene der Prüfer dem Prüfling als Gegner, nicht jedoch als der Partner, der er sein sollte. Behutsam vorgenommene Korrekturen stellen somit einen wichtigen Faktor für einen dennoch erfolgreichen Prüfungsverlauf dar. Sie sollten in der Prüfungssituation so früh wie möglich vorgenommen werden - also dann, wenn der Prüfer die ersten Anzeichen dessen spürt, dass der Prüfling inhaltlich auf dem falschen Weg ist -, um schadensbegrenzend zu wirken.

·    Kein Austausch kritischer Blicke:  
Der Austausch kritischer Blicke zwischen Prüfer und Zweitprüfer oder Beisitzer kann sich negativ auf den Prüfungsverlauf auswirken. So unauffällig diese Blicke im Einzelfall auch sein mögen - Prüflinge sind in dieser Stress-Situation in der Regel derart sensibilisiert, dass sie diese mitbekommen und sie zu Recht oder Unrecht - auf die eigene Prüfungsleistung beziehen. Dies kann in Einzelfällen so weit gehen, dass sie sich durch solche Blicke derart irritiert fühlen, dass sie ihr persönliches Leistungsniveau nicht halten können. Prüfer, Zweitprüfer und Beisitzer sollten den Austausch vielsagender Blicke daher unbedingt vermeiden und in dieser Hinsicht Disziplin üben. Auch hierin liegt ein Gesichtspunkt der Rücksichtnahme des Prüfers auf seinen Prüfling.

·    Beruhigendes Einwirken auf den Prüfling:
Erkennt ein Prüfer, dass sein Prüfling unter Nervosität leidet[11], so sollte er diese nicht negativ werten: Das pure Vorhandensein von Nervosität sagt nichts über die intellektuelle Leistungsfähigkeit eines Menschen aus: Solange sie ihn nicht geistig lähmt, kann sie sogar motivierend wirken.
Erkennt ein Prüfer, dass sein Prüfling beispielsweise schnell atmet, dass er häufig schluckt, dass seine Stimme oder seine Hände zittern - oder weist der Prüfling explizit auf seine eigene Nervosität hin -, so sollte er tätig werden: In solchen Fällen sollte der Prüfer das eigentliche Prüfungsgespräch kurz unterbrechen und den Prüfling dahingehend beruhigen, dass er in der Prüfung nichts zu befürchten hat, dass seine Nervosität unbegründet ist und dass er auf großes Verständnis bei dem oder den Prüfern stößt, weil das Vorhandensein von Nervosität in Stress-Situationen ja nichts Ungewöhnliches ist. Solche Vorstöße wirken nicht immer, aber in der Mehrzahl der Fälle haben sie einen positiven Effekt. Auf diese Weise kann der Prüfer den Prüfling nicht nur beruhigen, sondern ihm auch zeigen, dass er ihm auf humane Art und Weise gegenübertritt. Allein diese Geste hat nicht selten eine nachhaltig befreiende Wirkung. Prüfer sollten somit immer auch ihre Sensibilität gegenüber dem Prüfling deutlich werden lassen und ihm zeigen, dass auch eine mündliche Prü-fung keine unangenehme Erfahrung sein muss.

·    Schrittweise Entwicklung des Prüfungsgesprächs:
Zu der Nervosität und Verwirrung von Prüflingen kann es auch beitragen, wenn Prüfer inhaltlich von einem (Unter)Thema zum nächsten springen und sich im Prüfungsgespräch nicht an eine klare Linie halten. Welche Gründe sich auch immer hinter einem solchen Verhalten verbergen - ein guter Prüfer vermeidet es unter allen Umständen. Eine inhaltlich klare Linie wird nicht nur die Nervosität des Prüflings herabzusetzen helfen, sondern führt auch zu einer insgesamt höheren Qualität des Prüfungsgesprächs, da es nur auf der Basis inhaltlicher Konstanz möglich ist, eine größere intellektuelle Tiefe zu erreichen, in der gute Prüflinge ihre wahren Fähigkeiten ausspielen können. Die Ausstrahlung einer gewissen „akademischen Ruhe“ hat somit tendenziell auf jegliche mündliche Prüfung eine positive Wirkung.

·   Kein nachhaltiges Beharren auf den Schwächen des Prüflings[12]:
Bei aller thematischen Konstanz mit ihren soeben diskutierten, positiven Wirkungen sollte der Prüfer jedoch nie auf den inhaltlichen Schwächen seines Prüflings beharren. Wenn er also feststellt, dass sein Prüfling über ein von ihm angesprochenes Thema nichts oder nicht viel weiß, dann sollte er nicht auf dessen eingehender Behandlung insistieren. Es ist negativ genug, wenn festzustellen ist, dass in diesem Bereich das Wissen des Prüflings nicht hinreichend ist; ihn durch beharrliches Fragen auf diese Wissenslücke hin festzunageln, ist prüfungsdidaktisch ineffizient: Ein solches Verhalten führt nicht zu weiteren inhaltlichen Erkenntnissen, sondern steigert nur die Nervosität des Prüflings. Zudem geht durch ein solches Prüferverhalten wertvolle Zeit verloren, in der der Prüfling sein Wissen auf anderen relevanten Feldern unter Beweis stellen könnte. Das Beharren auf inhaltlichen Lücken des Prüflings stellt in mündlichen Prüfungen somit eine didaktisch nicht wünschenswerte Strategie dar und ist unbedingt zu vermeiden.

·    Vorsichtige Kritik bei der Notenbekanntgabe:
Bei der Notenbekanntgabe sollte der Prüfer - bei möglicher negativer Kritik der Prüfungsleistung - beachtliche Vorsicht walten lassen. Ist die Negativkritik zu harsch, kann sich bei dem Prüfling durchaus eine Phobie in Bezug auf künftige mündliche Prüfungen entwickeln, die diese ungünstig beeinflussen kann: Eine gegebene Prüfung darf nicht als isoliertes Ereignis gesehen werden; sie ist vielmehr im Kontext vorheriger und künftiger Prüfungen zu sehen. So wie vorhergehende Prüfungen einen positiven oder negativen Einfluss auf die gegenwärtige Prüfung haben, hat die gegenwärtig absolvierte Prüfung einen positiven oder negativen Einfluss auf noch kommende. Prüfer sollten sich diese Zusammenhänge bewusst machen und sie entsprechend in ihre Kritik umsetzen.
Die Kritik der gegenwärtig abgelegten Prüfung sollte aus diesen Gründen immer in der Weise erfolgen, dass sie künftig anstehende Prüfungen zu verbessern hilft. Lob sollte im Vordergrund stehen und somit diejenigen positiven Tendenzen verstärken, die der Prüfling in der gegenwärtigen Prüfung an den Tag gelegt hat. Solche Verhaltensaspekte, die den gegenwärtigen Prüfungserfolg beeinträchtigt haben und bei denen davon auszugehen ist, dass sie auch zukünftige Prüfungen affizieren, sollten angesprochen werden, um so die Chance zu erhöhen, dass sie in Zukunft vermieden werden. Wird dem Prüfling dabei verdeutlicht, dass sein Prüfer ihm helfen will, dann wird er diese Kritik als konstruktive verstehen und sie in sein künftiges Verhalten umzusetzen versuchen. Auf diese Weise kann die gut gemeinte, konstruktive Kritik der gegenwärtigen Prüfung in ihren positiven - und ebenso in ihren negativen - Anteilen die Grundlage für einen (größeren) Erfolg in der nächsten Prüfung darstellen.

Für die praktische Umsetzung dieser Reflexionen ist von entscheidender Bedeutung, dass der oder die Prüfer sich Zeit für den Prüfling nehmen. Für jede mündliche Prüfung sollte somit - zusätzlich zu dem für die Diskussion und Festsetzung der Note vorgesehenen zeitlichen Rahmen - ein Zeitfenster von mindestens 15 Minuten für die Nachbesprechung mit dem Prüfling eingeplant werden. Ist eine so große Zeitspanne aufgrund hoher Prüflingszahlen nicht möglich, so sollten die Prüfer den Prüfling auffordern, an einem der folgenden Tage in ihre Sprechstunde zu kommen, damit sie Gelegenheit erhalten, die Prüfung gründlich zu analysieren und dem Prüfling ein fruchtbares Feedback zu geben. Nur auf diese Weise ist es für Prüflinge möglich, aus der gegenwärtigen Prüfung für weitere mündliche Prüfungen zu lernen.


4.3.4.5 Konzeption mündlicher Prüfungen als Gespräch

Eine mündliche Prüfung sollte als Gespräch konzipiert werden - entweder als Simulation eines Gesprächs oder - im Optimalfalle - als Realisation eines solchen. Diese Form der oralen Leistungserhebung ist einem reinen Frage-Antwort-Spiel vorzuziehen, weil nur eine Gesprächssituation die Leistungsfähigkeit des Prüflings in einer Weise zu erfassen vermag, die die physische Präsenz von Prüfer und Prüfling zu derselben Zeit am gleichen Ort  am effizientesten nutzbar macht. Wollte ein Prüfer ein reines Frage-und-Antwort-Spiel durchführen, so könnte er dies durchaus nicht minder effektiv in schriftlicher Form im Sinne eines Fragebogens - beispielsweise zur Abprüfung von Fachterminologie - tun. Eine mündliche Prüfungssituation wäre für eine solche Prüfungsform dagegen nicht notwendig. Sinn einer mündlichen Prüfung muss es somit sein, den oralen Charakter, der ihr zugrunde liegt, bewusst zu nutzen. Dies geschieht am wirkungsvollsten und am akademisch befriedigendsten in Form eines freien Gesprächs mit spontanen Anteilen und unmittelbaren Reaktionen der Interaktanten.  

Der Fragetyp, der sich zu diesem Zweck auch in mündlichen Prüfungen genuin anbietet, ist derjenige der Transferfrage (vgl. hierzu auch Kap. 2.4.2.2 und 4.2.6.). Dieser gestattet die Realisierung der hier beschriebenen Prüfungsabläufe in geeigneter Form, da er die hierfür notwendige Bedingung der inhaltlichen Offenheit erfüllt. Diese ist die Voraussetzung für die Schaffung einer Atmosphäre der akademischen Selbstentfaltung. Insgesamt ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass ohne die Konzeption mündlicher Prüfungen als Gespräch die Stellung von Transferfragen mindestens stark eingeschränkt - in vielen Fällen sogar unmöglich - ist.

Reine Wissensfragen haben zwar ebenfalls ihre Berechtigung, da sie Aussagen über den sachlich-faktischen Hintergrund der Prüflinge ermöglichen und festzustellen erlauben, aufgrund welcher Datenbasis diese ihre weiteren bewertenden, evaluierenden, übertragenden oder vergleichenden Aussagen machen. Reine Wissensfragen sollten jedoch weniger als die Hälfte der in einer mündlichen Prüfung gestellten Fragen ausmachen. Der überwiegende Teil sollte aus Transferfragen bestehen, die das intellektuelle Potential des Prüflings herauszuarbeiten vermögen.

Transferfragen, die per definitionem über die bloße Darstellung von Buchwissen hinausgehen, haben im Wesentlichen die folgenden Vorteile[13]:
  • Sie zeigen die wissenschaftliche Qualität im Denken des Prüflings;
  • Sie bezeugen das tiefere Verständnis des Prüflings im Hinblick auf Sachzusammenhänge, nicht nur auf Sach- und Fachwissen;
  • Transferwissen ist nicht auswendig gelernter Stoff; es entwickelt sich aus der Reflexion des Prüflings und / oder aus der Reflexion des Prüfers und dem Kontext der Prüfungssituation;
  • Transferfragen ermöglichen es, die mündliche Prüfung von einem Frage-Antwort-Spiel in ein veritables Gespräch zu transformieren und ihr somit den ihr ansonsten inhärenten, künstlichen Charakter zu nehmen;
  • Transferfragen können oft nicht als „richtig“ oder „falsch“ eingestuft werden: Sie können gleichsam beides sein - in Abhängigkeit von der Begründung des Prüflings. Sie nehmen dem Prüfling somit einen Großteil des psychischen Drucks, der mündlichen Prüfungen gemeinhin innewohnt, und lassen ihn als ernst zu nehmenden, nahezu gleichberechtigten Gesprächspartner erscheinen;
  • Transferfragen zeigen die Souveränität des Prüfers: Prüfer, die aus-schließlich auf der Abfragung von Fachwissen bestehen, sind oft nicht Herr der Lage, sie sind oft nicht auf dem letzten Stand der Forschung. Die Abfragung von Faktenwissen gibt ihnen Sicherheit. Transferfragen stellen für sie bisweilen ein unsicheres Terrain dar. Solche Prüfer hingegen, die wissenschaftliche Souveränität besitzen, sind offen für Transferfragen, denn im allgemein-wissenschaftlichen Sinne sind es diese Fragen, die die Forschung weiterbringen;
  • Transferfragen belegen die Selbständigkeit des Prüflings im Denken. Sie zeigen, inwieweit er in der Anwendung seines Wissens zu gehen in der Lage ist;
  • Transferfragen basieren auf einem soliden Fachwissen, setzen dieses voraus. Aufgrund dieser Inklusion von Fachwissen sind sie auf logischer Ebene höher einzuschätzen als dieses Fachwissen selbst;
  • Transferfragen können nur dann in qualitativ hochstehender Art und Weise beantwortet werden, wenn das Faktenwissen, auf dem sie basieren, solide ist. Ist die Faktenbasis brüchig, können Transferfragen nicht adäquat bearbeitet werden;
  • Transferfragen verweisen auf das intellektuell begründete Verhalten der Prüflinge in der Interaktion mit anderen Individuen (hier: den Prüfern) und bereiten sie somit in geradezu idealtypischer Art und Weise auf ihre spätere berufliche Karriere vor, im Rahmen derer sie in eben solche Situationen fachlicher Darstellung und sachlicher Konflikte bestehen müssen.
Transferfragen erweisen sich somit als der ideale Fragetyp für mündliche Prüfungen.

Als Gespräch konzipierte mündliche Prüfungen laufen somit per definitionem nicht nach einem einheitlichen Schema ab, sind also immer individuell anders und an die jeweilige Situation angepasst. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für eine effiziente Leistungsermittlung - besonders im akademischen Bereich. Mag es in Fremdsprachenprüfungen im Einzelfalle auch sinnvoll sein, den Prüflingen einen Fragenkatalog vorzulegen, auf den sie spontan mündlich reagieren müssen und mit dessen Hilfe eine gewisse Standardisierung der Prüfungssituation erzielt werden soll, so kann im akademischen Bereich davon ausgegangen werden, dass das freie Gespräch - das unreglementierte Spiel der intellektuellen Kräfte zwischen Prüfer und Prüfling - das Leistungsniveau des Letzteren am wirksamsten zu eruieren vermag: Nur durch die Wahrung der Möglichkeiten des freien Assoziierens und der ungebremsten Entfaltung des Geistes ist es möglich, den Prüfling zu ungeahnten Höhen intellektueller Performanz zu führen. Vorgaben jedweder Art können diesem, als Desiderat einzustufenden Prozess nur zuwiderlaufen. Mündliche Prüfungen sollten somit als freies Gespräch konzipiert werden.

Wenn dessen vollkommen spontane Realisierung auch nicht in jedem einzelnen Falle möglich sein mag - etwa weil ein Prüfer seinem Prüfling bestimmte, zuvor von ihm festgelegte Fragen stellen will, um das zu prüfende Fachgebiet adäquat abzudecken -, so sollten diese zumindest als freies Gespräch simuliert werden, was beispielsweise dadurch geschehen kann, dass der Prüfer auch in dieser Situation immer flexibel auf den Input des Prüflings reagiert und wie in einem freien Gespräch von seinem Fragenkatalog zumindest an der einen oder anderen Stelle abrückt. Die echte Realisierung mündlicher Prüfungen als freie Gespräche stellt in diesem Kontext zwar das Optimum dar; deren Simulation ist immer noch ungleich besser als die erwähnten, zu vermeidenden reinen Frage-Antwort-Spiele.

Diese Ausführungen sollen jedoch nicht den Eindruck vermitteln, als sei ein solches Prüfungsgespräch vom Prüfer nicht sorgfältig vorzubereiten. Das Gegenteil ist der Fall: Dem Prüfer obliegt es trotzdem, sich einige wenige Leitfragen zurechtzulegen, deren Behandlung er entweder als notwendig erachtet und / oder auf die er zurückgreifen kann, wenn das Gespräch in eine Sackgasse zu steuern droht. Der Unterschied zu einer reinen Abfragesituation besteht jedoch darin, dass er nicht „sklavisch“ an diesen Leitfragen festhält, sondern sie flexibel behandelt und sie in Abhängigkeit von der Situation gegebenenfalls auch ungestellt lässt. Was jedoch für eine Realisation mündlicher Prüfungen in der beschriebenen Form von Seiten des Prüfers unerlässlich ist, ist es, dieses Prüfungsgespräch zu antizipieren und sich - in Abhängigkeit von der Persönlichkeit des Prüflings - im Vorhinein in diesen hineinzuversetzen und den Ablauf der Prüfung so gut wie möglich vorherzusehen. Eine solche Prüfungsgestaltung bedarf daher eines zu beachtlicher Empathie fähigen Prüfers - und somit eines hohen Anspruchs nicht nur an seine Fachkompetenz, sondern auch an seine Persönlichkeit. Ein solcher Prüfer muss zudem hellwach sein; er darf nicht zwischendurch intellektuell abschweifen, sondern hat eine erhebliche geistige Präsenz unter Beweis zu stellen. Dies bedeutet, dass er seinem Prüfling in jeder Sekunde der Prüfung wirklich zuhört, auf ihn eingeht, das von ihm Gesagte gründlich reflektiert und ihm durch kontextuell begründete, einfühlsame Fragen die Möglichkeit eröffnet, sich im Gespräch immer weiter zu entwickeln. Es bedarf schließlich eines Prüfers, der seinen Prüfling gut kennt und der ihn zudem in hohem Maße als Individuum behandelt. Es wird an dieser Stelle deutlich, dass die Anforderungen, die an einen Prüfer gestellt werden, der mündliche Prüfungen in der beschriebenen Art und Weise abhält, erheblich sind und dass es in der breiten Mehrheit der Fälle notwendig sein wird, Prüfer in der beschriebenen Weise zu schulen. Hier ist die Prüfungsdidaktik auf den Plan gerufen, damit solche Schulungen in Zukunft unter fachkundiger Anleitung und mit hoher Effizienz durchgeführt werden können.  


4.3.5 Zahlenmäßige Begrenzung hintereinander angesetzter mündlicher Prüfungen

Eine triviale Forderung, die die Erfüllung der für erfolgreiche mündliche Prüfungen bestehenden Grundbedingungen abrundet, ist diejenige nach einer begrenzten Zahl mündlicher Prüfungen in einer gegebenen Zeiteinheit. Konkret mag dies beispielsweise in der Weise verstanden werden, dass bei mündlichen Prüfungen, die eine Netto-Länge von 60 Minuten haben, pro Prüfung brutto 90 Minuten angesetzt werden, um zum einen über eine zeitliche Marge zu verfügen, die mögliche Verzögerungen zu kompensieren hilft, und die zum anderen einen gewissen Raum für das Prüfergespräch zur Festsetzung der Note und für die Abschlussbesprechung mit dem Prüfling lässt. In direkter Aufeinanderfolge sollten nicht mehr als drei solcher Prüfungseinheiten angesetzt werden, wobei eine Beschränkung auf zwei solcher Prüfungseinheiten vorzuziehen wäre. Auch wenn diese Forderungen im Prüfungsalltag schwierig zu realisieren sind, stellen sie eine wichtige Orientierungsgröße dar, die möglichst angestrebt werden sollte, um mündliche Prüfungen auf seriöse Weise und mit hinreichender Gründlichkeit durch-führen zu können: Von Planungen, bei denen die Prüfer im Extremfalle - abgesehen von einer kurzen Mittagspause - den ganzen Tag im Einsatz sind, sollte unbedingt abgesehen werden. 

Nach der Behandlung wesentlicher Grundbedingungen schriftlicher und mündlicher Prüfungen allgemein wollen wir uns im Folgenden mit prüfungsdidaktischen Fragestellungen im Bereich der fremdsprachlichen Philologien beschäftigen und unsere Blickrichtung somit auf ein weiteres wichtiges Gebiet lenken, auf dem die Prüfungsdidaktik Relevanz besitzt.




[1] Vgl. hierzu beispielsweise auch das Prüferportal (2010) des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) (http://www.prueferportal.org/html/index.php; 03.04.2011), das für nicht-akademische Berufe konzipiert ist und dessen Darstellung zwar anregend wirken kann, oft jedoch an der Oberfläche verbleibt.
[2] Vgl. hierzu Boos (2010, 100ff), die - in Bezug auf die zwischen Gedächtnis und Bewegung herrschenden Beziehungen – einen positiven Zusammenhang zwischen Sauerstoffzufuhr und Denkleistung erstellt. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass das menschliche Gehirn optimal arbeitet, wenn der Mensch in Bewegung ist. Wenn Prüflinge nun gezwungen sind, während ihrer Prüfung zu sitzen und die Denkleistung allein dadurch herabgesetzt wird, um wie viel mehr wird sie dann im Vergleich zu einem gedachten Optimum reduziert, wenn Prüflinge in schlechter Luft arbeiten müssen?!
[3] Für spezifischere Überlegungen zu diesem Gesichtspunkt in Bezug auf das Leseverstehen, vgl. auch Kap. 6.2.6.
[4] Dazu ist es ebenso notwendig, dass Prüflinge ihre Möglichkeiten der Klausureinsicht regelmäßig und funktional nutzen - nicht nur dann, wenn sie eine schlechte Note erhalten haben und ihre potentiellen Chancen auf Notenkorrektur ausschöpfen möchten. Sie sollten dies vielmehr auch bei Vorliegen guter Resultate tun, um aus den gemachten Fehlern zu lernen. Gerade diese Möglichkeit wird von Prüflingen erfahrungsgemäß zu wenig genutzt.
[5] Die hier formulierten Gesichtspunkte sind dabei in keiner Weise exhaustiv; sie sind vielmehr beliebig durch andere Aspekte erweiterbar. Sie dienen im vorliegenden Zusammenhang lediglich der Anregung und auch der Ermunterung für Prüfer dahingehend, weitere Möglichkeiten auf ihre eigene Prüfungspraxis anzuwenden.
[6] Diese Forderung gilt ebenso für den schulischen Kontext, in dem sie jedoch bereits weiträumig umgesetzt wird.
[7] Mündliche Prüfungen beziehen sich im Bereich Sprachpraxis auf die Testung der Sprechfertigkeit. Die hier gemachten Ausführungen beziehen sich daher in erster Linie auf die Feststellung der Ausprägung dieser. Unsere Reflexionen sind jedoch direkt auf mündliche Fachprüfungen in den fremdsprachlichen Philologien - und im Grunde auf mündliche Prüfungen im Allgemeinen - transferierbar.
[8] Vgl. hinsichtlich vorwiegend technischer Informationen zu diesem Gesichtspunkt die „Checkliste zur mündlichen Prüfung“ auf dem auf nicht-akademische Berufe bezogenen Prüferportal des Bundesinstituts für Berufsbildung (2010)
(http://www.prueferportal.org/html/944.php#checkli; 13.04.2011))
[9] Dieser Zusammenhang gilt auch dann, wenn diese Prüfer in keiner Weise inkompetent sind, sondern lediglich eine solche Einstufung durch ihre Umwelt fürchten.
[10] Zum Einfluss von Stress und Angst auf mündliche Prüfungen und Prüfungsleistungen vgl. Buchwald (2002).
[11] Wenn auch die Mehrzahl der Prüflinge unter Nervosität leiden mag, so gibt es durchaus viele Prüflinge, die ihre Nervosität nicht dissimulieren können, so dass diese dann offen sichtbar wird und das Prüfungsgeschehen maßgeblich zu determinieren scheint.
[12] Das Verb „herumreiten“ wird trotz seines äußerst gesprochensprachlichen Charakters hier verwendet, da es wie kein anderes verdeutlicht, was wir mit diesem Phänomen meinen. Eine Umschreibung durch ein stilistisch angemesseneres Verb wie beispielsweise verweilen bei oder beharren auf - wäre dagegen mit ungleich weniger Verständigungspotential behaftet.
[13] Die hier aufgelisteten Gesichtspunkte ergänzen die in Kap. 4.2.6 angeführten und ergeben zusammengenommen hinsichtlich der Vorteile von Transferfragen ein Bild über deren Verwendung in Prüfungen allgemein.