0.      Einleitung

Die vorliegende Monographie stellt die folgerichtige Weiterentwicklung unseres Buches „Prüfungsdidaktik. Zur Fundierung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin - am Beispiel der modernen Fremdsprachen“ (Tinnefeld 2002) dar. Es handelt sich um ein vollkommen neues Werk, das - in Inklusion der in jener Publikation erarbeiteten Erkenntnisse - den wissenschaftlichen und historischen Hintergrund der Prüfungsdidaktik liefert und zudem neue Perspektiven dieser Disziplin aufzeigt. Zum Zwecke der Wahrung der Kontinuität werden die modernen Fremdsprachen wiederum in den Mittelpunkt unserer Überlegungen gestellt, und es werden kontextuell relevante, weiterentwickelte und an die entsprechende Faktenlage angepasste Aspekte behandelt. Darüber hinaus wird auf die mögliche Zukunft der Prüfungsdidaktik eingegangen, indem diejenigen Schritte aufgezeigt werden, die diese neue Disziplin in den kommenden Jahren wird vornehmen müssen, um sich weiter zu etablieren und letztendlich den ihr gebührenden Rang im Kanon der Wissenschaften einzunehmen.

Die vorliegende Publikation ist aus mehreren Gründen notwendig geworden:
  • Die erwähnte Monographie zur Fundierung der Disziplin Prüfungsdidaktik ist in der Fachwelt positiv aufgenommen worden, was sich im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses in unzähligen - oft informellen - Reaktionen gezeigt hat;
  • Es ist deutlich geworden, dass eine solche Disziplin bis zur Publikation jener Arbeit gefehlt hatte, und dass ihre Notwendigkeit nunmehr als immer notwendiger erkannt wird;
  • Zwischen den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und heute hat sich eine Diskrepanz in der Forschung ergeben, die mit der vorliegen-den Arbeit zumindest ansatzweise kompensiert werden soll: Damals hatte man zaghaft begonnen, sich über Prüfungen Gedanken zu machen, jedoch ohne diese Reflexionen zu integrieren und zu systematisieren. In der Zwischenzeit gab es immer wieder Veröffentlichungen, die sich mit Prüfungen beschäftigten, die jedoch einen eher beratenden als sachlich darstellenden, wissenschaftlichen Charakter hatten. Daneben gab es andere - wissenschaftliche - Publikationen, die die Forschung im Blick hatten. Unsere Monographie aus dem Jahre 2002 griff jene Bemühungen gleichsam als überfällige und die Zeichen der Zeit erkennende Darstellung auf und integrierte sie in einen höheren Zusammenhang.
  • Unsere Monographie „Prüfungsdidaktik“ hatte die Aufgabe, die Fachwelt „aufzurütteln“, sie also auf das Fehlen dieser Disziplin im Kanon der bestehenden Wissenschaften hinzuweisen. Ihre Aufgabe war es, dies in einer energiefreisetzenden[1] Form zu tun. Ihre Aufgabe war es dagegen nicht, im traditionellen Sinne ausschließlich wissenschaftlich zu sein. Dieser Schritt soll in der vorliegenden Arbeit vorgenommen werden. Nun, da die Bedeutung der Prüfungsdidaktik erkannt worden ist, ist es an der Zeit, eine im traditionellen Sinne wissenschaftliche Abhandlung vorzulegen.
Würde die durch unsere Pilotpublikation induzierte Entwicklung rückgängig gemacht, so würde man rasch feststellen, dass sich dadurch eine erhebliche Lücke auftäte und ein wichtiges Element im Kanon wissenschaftlicher Disziplinen fehlen würde: Es sind durch jene Publikation Bewusstseins- und Erkenntnisprozesse ausgelöst worden, die nicht mehr zurückgeschraubt werden können, und die sich nicht nur auf die Fachwelt - Kolleginnen und Kollegen - erstrecken, sondern auch auf Studierende, die die Bedeutung dieser neuen Disziplin nicht nur für ihre eigene Rolle als Prüflinge in Staats-, Magister- oder Bachelor und Master-Examen erkannt haben, sondern auch für ihre spätere Berufsrolle als Lehrer und Prüfer[2].

Der Aufbau der vorliegenden Monographie ist an ihrer Rolle im wissenschaftlichen Kontext orientiert:

Im ersten Kapitel wird der Weg zur Prüfungsdidaktik aufgezeigt. Es wird dargelegt, welche Etappen in der Wissenschaft genommen werden mussten, um die Entwicklung dieser neuen Disziplin voranzutreiben, um ihr gleichsam den Weg zu ebnen. Diese Entwicklung beginnt früher, als man dies aus heutiger Sicht vermuten mag.

Das zweite Kapitel widmet sich der Eingrenzung und Abgrenzung des Gegenstandsbereiches der vorliegenden Monographie - der Prüfungsdidaktik selbst. Hier geht es vordringlich um die Definition und die Positionierung dieser Disziplin.

Im dritten Kapitel werden die Grundzüge einer Prüferbefragung im Bereich der modernen Fremdsprachen beschrieben, deren Ziel es war, die Einstellun-gen von Prüfern zu Prüfungen wie auch ihr eigenes Rollenverständnis zu eruieren. Letztendlich führte diese Umfrage auch zu einer bedeutsamen Einschätzung der Wichtigkeit von Prüfungen und - zentral für die vorliegende Monographie - der Bedeutung der Prüfungsdidaktik.

Gegenstand des vierten Kapitels sind die für die Gewährleistung einer hohen Prüfungsqualität zu erfüllenden Grundbedingungen schriftlicher und mündlicher Prüfungen. Die dort angestellten Überlegungen sind bewusst recht praxisnah gehalten. Dass sie somit weniger „akademisch“ erscheinen, ist evident und durchaus intendiert: Jegliche Prüfung hat neben ihrer theoretischen Seite eine grundlegend praktische Dimension, die ebenso notwendig erfüllt sein muss, wie die konzeptionelle Planung gewährleistet sein muss, damit sie erfolgreich durchgeführt werden kann. Eine inadäquat geplante, aber gut durchgeführte Prüfung ist ebenso schlecht wie eine logisch konzipierte, jedoch schlampig in die Praxis umgesetzte Prüfung. Beide Ausprägungen bedingen sich notwendig. Dieser wesentliche Gesichtspunkt wird  in diesem Kapitel aufgezeigt.

Im fünften Kapitel beschäftigen wir uns mit der Prüfungsdidaktik in den fremdsprachlichen Philologien. Eine der Grundfragen, die sich hier stellen, ist diejenige nach der Vergleichbarkeit und Unterschiedlichkeit prüfungsdidakti-scher Fragestellungen in diesem Bereich. Es wird hier deutlich, welche prüfungsdidaktischen Gesichtspunkte von Bedeutung sind und welche inhaltlichen und formalen Erwartungen hinsichtlich der Vorbereitung und Durchführung von Prüfungen an Prüfer und Prüflinge gestellt werden können. Die dort angestellten Reflexionen sind zum einen konzeptioneller Natur, zum anderen enthalten sie jedoch ganz konkrete Beispiele.

In den darauf folgenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit beschäftigen wir uns mit der Anwendung der Prüfungsdidaktik auf die modernen Fremdsprachen - und hier in erster Linie mit Blick auf den sprachpraktischen Bereich. Im sechsten Kapitel geht es um Grundfragen der Konzeption von Prüfungen im Bereich der grundlegenden fremdsprachlichen Fertigkeiten. Diese Ausführungen sind von theoretischem Interesse, können jedoch zugleich als Leitfaden für Klausurkonzeptoren gelten.

In Kapitel sieben beschäftigen wir uns mit der Bewertung sprachlicher Prüfungsleistungen. Dabei werden die im vorangegangenen Kapitel behandelten Aufgabentypen funktionalen Bewertungsmöglichkeiten zugeführt, wobei konkrete Beispiele gegeben werden. Diese Dimension stellt einen zentralen Bereich der Prüfungsdidaktik dar: Unsicherheiten von Prüfern in diesem Bereich können zu ungerechter und inadäquater Bewertung von Prüflingen führen und zudem selbst die konzeptionell gute bis sehr gute Prüfung qualitativ beträchtlich mindern und sie in letzter Konsequenz hinsichtlich ihrer Aussagekraft entwerten.

Im achten und letzten Kapitel der vorliegenden Monographie setzen wir uns schließlich mit Forschungsdesiderata auseinander,  die sich im Rahmen der Prüfungsdidaktik ergeben. Wir stellen dort eine Auswahl derjenigen Fragestellungen dar, die in den kommenden Jahren einer empirischen Erforschung bedürfen. Dabei werden nicht nur die Desiderata selbst aufgezeigt, sondern es werden konkrete Forschungsdesigns beschrieben. Künftige Prüfungsdidaktiker können sich - wenn sie es denn wollen - an diesen Forschungsdesigns orientieren und verfügen somit über einen konkreten Leitfaden für weitere empirische Tätigkeit. Mit diesem Kapitel weist die vorliegende Arbeit weit über sich hinaus: Sie kann die Forschung in diesem Feld maßgeblich anleiten und somit wichtige Fingerzeige geben. Dieses Kapitel ergibt sich nicht nur folgerichtig aus den bis dahin gemachten Ausführungen, es rundet die Arbeit auch in logischer Form ab.

Die hier angerissenen Bereiche wollen wir im gegebenen Zusammenhang als die Dimensionen der Prüfungsdidaktik verstehen. Sie lassen sich graphisch der besseren Übersichtlichkeit halber wie folgt darstellen:
             Abb. 1: Dimensionen der Prüfungsdidaktik


In unserem ersten Schritt wenden wir uns nunmehr der Entstehung der Prüfungsdidaktik zu und der Entwicklung, die dieser noch neuen Disziplin vorausging.




[1] Da wir nicht mit allen Regelungen der aktuellen deutschen Rechtschreibung konform gehen, werden in der vorliegenden Monographie bisweilen orthographische Varianten gewählt, die den herkömmlichen Rechtschreibregeln entsprechen. In der vorliegenden Monographie werden somit beispielsweise adjektivische Wortzusammensetzungen aus Substantiv + Adjektiv, die nach der neuen Rechtschreibung in zwei Wörtern (vgl. Energie freisetzend) realisiert werden müssten, gemäß der Regelhaftigkeit der alten Rechtschreibung in einem Wort (vgl. energiefreisetzend) realisiert, da diese Schreibweise in aller Regel dem unmittelbaren Textverständnis förderlich ist.
[2] Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wählen wir hier die maskuline als die jeweils generische Form - durchaus in dem Bewusstsein der impliziten Mitnennung der entsprechenden weiblichen Pendants.